Amerikas Glaube an seine "Ausnahmerolle"

Seit John F. Kennedy wollen die USA die Demokratie verbreiten, der ganzen Welt Freiheit und "amerikanische Werte" bringen. Oft genug aber seit den 1960er-Jahren ist diese "Mission" in Blutbäder ausgeartet.

Heute vor 50 Jahren fiel der amerikanische Präsident John F. Kennedy in Dallas, Texas, einem Mordanschlag zum Opfer. Viele Amerikaner glauben, dass dieses tragische Ereignis den Verlust ihrer nationalen Unschuld markiert. Das ist natürlich Unsinn. Die Geschichte der USA – wie die aller Länder – trieft von Blut.

Doch aus heutiger Sicht erscheint Kennedys Präsidentschaft wie ein Höhepunkt amerikanischen Prestiges. Weniger als fünf Monate vor seinem gewaltsamen Tod riss Kennedy eine enorme Ansammlung von Menschen in der Berliner Innenstadt, dem Grenzposten des Kalten Krieges, mit seinen berühmten Worten „Ich bin ein Berliner“ zu beinahe hysterischer Begeisterung hin.

Jung, glamourös, reich, gütig

Für viele Millionen Menschen verkörperte das Amerika John F. Kennedys Freiheit und Hoffnung. Wie das Land, das er repräsentierte, sahen Kennedy und seine Frau Jacqueline so jung, glamourös, reich aus und schienen voll gütiger Energie zu sein. Die USA waren ein Ort, zu dem man aufschaute, ein Modell, eine Kraft des Guten in einer bösen Welt.

Dieses Bild sollte bald durch die Ermordung Kennedys, seines Bruders Bobby und Martin Luther Kings sowie durch den von Kennedy selbst eingeleiteten Krieg in Vietnam zerstört werden. Hätte Kennedy seine Präsidentschaft zu Ende gebracht, sein Erbe hätte die von ihm geweckten Erwartungen fast mit Sicherheit enttäuscht.

Als die Amerikaner ihren ersten schwarzen Präsidenten – eine weitere junge und hoffnungsvolle Gestalt – wählten, sah es einen Moment so aus, als hätten die USA etwas von dem Prestige zurückgewonnen, das sie Anfang der 1960er-Jahre ausstrahlten. Wie Kennedy hielt auch Barack Obama eine Rede in Berlin vor einer ihn verehrenden Menge von mindestens 200.000 Menschen – noch bevor er überhaupt gewählt wurde.

Dieses frühe Versprechen wurde nie erfüllt. Tatsächlich hat das Prestige der USA seit 2008 stark gelitten. Amerikas nationale Politik ist so vergiftet von provinzieller Parteilichkeit – besonders seitens der Republikaner, die Obama von Beginn an hassten –, dass die Demokratie selbst beschädigt erscheint.

Die wirtschaftliche Ungleichheit ist größer denn je. Autobahnen, Brücken, Krankenhäuser und Schulen verfallen. Und verglichen mit den großen Flughäfen in China sehen jene um New York City herum heute geradezu primitiv aus.

Außenpolitisch werden die USA heute entweder als ein alle anderen drangsalierender Angeber oder als zaudernder Feigling angesehen. Amerikas engste Verbündete – wie etwa die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel – schäumen vor Wut darüber, ausspioniert worden zu sein.

Ramponierte Supermacht

Andere wiederum, vor allem in Israel und Saudiarabien, sind angewidert von dem, was sie als amerikanische Schwäche ansehen. Selbst Russlands Präsident Wladimir Putin – autokratischer Staatschef einer zerfallenden zweitrangigen Macht – schafft es, im Vergleich zu Amerikas beschädigtem Präsidenten gut auszusehen.

Es fällt leicht, Obama oder den unverantwortlichen Republikanern die Schuld für diesen traurigen Zustand zu geben. Damit freilich würde man den wichtigsten Punkt zu Amerikas Rolle in der Welt außer Acht lassen: Derselbe Idealismus, der Kennedy so populär machte, treibt nun den Niedergang von Amerikas internationalem Prestige voran.

Einige von Kennedys glühendsten Verehrern machen sich noch immer vor, dass er die Eskalation des Vietnam-Kriegs vermieden hätte, wenn er nur länger gelebt hätte. Dafür gibt es freilich keinerlei Anhaltspunkte. Kennedy war ein hartgesottener Kalter Krieger. Und sein Anti-Kommunismus war in die Begrifflichkeiten des amerikanischen Idealismus eingebettet.

In seiner Antrittsrede erklärte er: „Wir werden jeden Preis zahlen, jede Last auf uns nehmen, jede Not ertragen, jeden Freund unterstützen, jedem Feind entgegentreten, um das Überleben und den Erfolg der Freiheit sicherzustellen.“

Die Begeisterung für Amerikas selbst gesteckte Mission, für die Freiheit überall auf der Welt zu kämpfen, litt – nicht zuletzt in den USA selbst – durch die blutige Katastrophe in Vietnam. Schätzungsweise zwei Millionen Vietnamesen starben in einem Krieg, der ihnen keine Freiheit brachte. Es erforderte ein weiteres, vom Umfang her deutlich beschränkteres Desaster, um die hochfliegenden Reden über die befreienden Effekte der amerikanischen Militärmacht wiederzubeleben.

Freiheit durch Drohnen?

Die Gründe, warum Präsident George W. Bush sich zum Krieg in Afghanistan und im Irak entschied, waren zweifellos komplex. Doch die von den neokonservativen Befürwortern dieser Kriege genutzten Formulierungen entstammten direkt der Ära Kennedys: die Verbreitung der Demokratie, die Sache der Freiheit und die universelle Autorität „amerikanischer Werte“.

Ein Grund, warum die Amerikaner Obama 2008 in das Weiße Haus wählten, war, dass die Rhetorik des amerikanischen Idealismus einmal mehr zum Tod und zur Vertreibung von Millionen von Menschen geführt hatte. Wenn US-Politiker heute von „Freiheit“ reden, denken die Menschen an Bombardierungen, Folterkammern und die ständige Bedrohung durch todbringende Drohnen.

Das Problem von Barack Obamas Amerika wurzelt in der widersprüchlichen Beschaffenheit seiner Führung. Obama hat sich von der amerikanischen Mission distanziert, die Welt gewaltsam zu befreien. Er hat den Krieg im Irak beendet, und er wird in Kürze den militärischen Großeinsatz in Afghanistan beenden. Bis jetzt hat er auch der Versuchung und dem Druck widerstanden, Kriege im Iran oder in Syrien zu führen.

Heimliche Kriegsführung

Für jene, die von den USA erwarten, dass sie alle Übel der Welt beseitigen, nimmt sich Obama als schwach und unentschlossen aus. Zugleich jedoch hat er es verabsäumt, das groteske US-Gefängnis in Guantánamo Bay zu schließen.

Wer Informationen über Spionage im In- und Ausland öffentlich macht, wird verhaftet, und der Einsatz todbringender Drohnen wurde ausgebaut. Während die offene Kriegsführung zurückgefahren wird, wird die heimliche Kriegsführung intensiviert und ausgeweitet. Und mit jedem neuen Tag leidet Amerikas Image mehr.

Aber das Hauptproblem ist nicht Obama. Das Hauptproblem ist die Anmaßung des amerikanischen Glaubens an die eigene „Ausnahmerolle“ in der Welt. Ein Glaube, der schon allzu oft missbraucht wurde, um unnötige Kriege voranzutreiben. Nicht nur hat der Idealismus der Amerikaner diese verleitet, zu viel von sich selbst zu erwarten, sondern auch die restliche Welt hat zu häufig zu viel von Amerika erwartet. Und derartige Erwartungen können nur in Enttäuschung enden.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2013.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor

Ian Buruma (*28.12.1951 in Den Haag) studierte chinesische Literatur in Leiden und japanischen Film in Tokio. 2003 wurde er Professor für Demokratie und Menschenrechte am Bard College in New York; 2008 mit dem Erasmus-Preis ausgezeichnet. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt ist in diesem Jahr sein Buch „Year Zero: A History of 1945“ erschienen. [Internet]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2013)

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