Konfrontation auf Kiews Straßen

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Die Opposition fordert den Rücktritt der Regierung. Unterdessen kriselt es in Präsident Janukowitsch' Partei: Aus Protest gegen die Abkehr von der EU häufen sich die Austritte.

Kiew/Wien. Trotz Eiseskälte kochte am Sonntag die Stimmung auf den Straßen Kiews. Zu nichts Geringerem als zur „Revolution" und zum „Aufstand" riefen die Anführer der ukrainischen Opposition. Bei einer Massendemonstration mit zehntausenden Teilnehmern im Zentrum Kiews trat Vitali Klitschko, Chef der Oppositionspartei Udar, vor die Menge und forderte den Rücktritt der Regierung. „Sie haben unseren Traum gestohlen", rief er. „Wenn die Regierung nicht den Traum der Menschen erfüllen will, dann wird es sie nicht mehr lange geben." Auch Oleg Tjagnibok, Chef der rechtsextremen Partei Freiheit und mit Klitschko und der Vaterlands-Partei von Julia Timoschenko im Bunde, rief zum „Aufstand".

Nach der brutalen Niederschlagung der Proteste Samstagfrüh, bei der Dutzende verletzt und 35 Personen verhaftet worden waren, hatte sich die Lage in Kiew nur kurz beruhigt. Gestern nachmittag erschütterten wieder Massenproteste das Zentrum. Am späteren Nachmittag kam es zu Ausschreitungen. 100 Polizisten sollen verletzt worden sein, als Demonstranten Steine und Flaschen gegen die Ordnungskräfte warfen. Einige Teilnehmer stürmten das Gewerkschaftshaus im Zentrum Kiews. Auch das Bürgermeisteramt wurde besetzt. In Medien war von „Provokateuren" die Rede, die versucht hätten, das Präsidentenamt in der Bankowa-Straße zu attackieren.
Zuvor waren Demonstranten, viele davon ausgestattet mit ukrainischen und europäischen Fahnen, auf den Unabhängigkeitsplatz (Maidan), von dem sie in der Nacht zuvor vertrieben worden waren, gezogen. „Die Ukraine gehört zu Europa", riefen die Menschen. Das von einem Gericht verhängte Demonstrationsverbot für die Innenstadt wurde ignoriert. Bei der Demonstration im Kiewer Zentrum nahmen auch der frühere Präsident des EU-Parlaments, Jerzy Buzek, sowie der Chef der Rechtspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Jaroslav Kaczyński, teil.

Innenminister entschuldigt sich

Nach dem brutalen Polizeieinsatz rudert die Regierung in Kiew zurück. Innenminister Vitali Zahartschenko entschuldigte sich für die „übermäßige Gewaltanwendung". Premierminister Mykola Azarow versprach in einem Fernsehinterview, die Behörden der Ex-Sowjetrepublik schützten die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Gesetzesverstöße aber würden bestraft.

Auch Präsident Viktor Janukowitsch kündigte in einer Mitteilung an, alles für eine schnelle Annäherung der Ukraine an die EU zu tun. Es gehe aber darum, wirtschaftliche Verluste zu vermeiden. Der Präsident hatte am vergangenen Freitag auf dem EU-Gipfel zur Ostpartnerschaft in Vilnius die Unterschrift unter ein Partnerschaftsabkommen mit der EU verweigert.
Präsident Janukowitsch bekommt nun auch immer mehr Widerstand in den eigenen Reihen zu spüren: In seiner Partei der Regionen (PdR) wächst der Protest gegen den neuen, pro-russischen Kurs. Am Wochenende traten einige Mitglieder aus der Partei aus, weitere kündigten diesen Schritt an. Er werde am Montag aus der Fraktion austreten, sagte der PdR-Abgeordnete Viktor Bondar am Sonntag der regierungskritischen Internetzeitung „Ukrainska Prawda". Er „führe auch mit vielen anderen Abgeordneten Gespräche über einen Fraktionsaustritt". Es werde schon bald möglich, eine neue, gegen Janukowitsch gerichtete Parlamentsmehrheit zu bilden.

„Dem Land droht Spaltung"

Schon am Samstag hatte der PdR-Abgeordnete David Schwanja angekündigt, er werde aus der Fraktion austreten. „An der Spitze der Exekutive stehen Verräter", sagte er. Der ehemalige Minister für Katastrophen gilt als einflussreicher Geschäftsmann.
Die PdR-Abgeordnete Irina Bereschna forderte im Internet Neuwahlen zum Parlament, falls die Verantwortlichen für den Polizeieinsatz nicht bestraft würden. Am Samstag hatte auch die PdR-Abgeordnete Inna Bogoslowska ihren Austritt aus Partei und Fraktion damit begründet, dass mit der Reorientierung in Richtung Russland die Ukraine gespalten werden solle.

Auch Personen aus der nächsten Umgebung von Janukowitsch rücken von ihm ab. Der Chef der Präsidialadministration, Sergej Ljowotschkin, trat am Samstag von seinem Amt zurück. Er nannte keine Gründe, seine Ehefrau erklärte jedoch per Facebook, „jeder denkende Mensch, der sich als Ukrainer fühlt, muss auf das reagieren, was im Land geschieht".(ag./som)

ZUR SACHE

Am Sonntag fanden weitere Massendemonstrationen in Kiew statt. Beobachter sprachen von bis zu 100.000 Teilnehmern. Am späteren Nachmittag kam es zu Ausschreitungen.

Die Demonstranten forderten den Rücktritt von Präsident Viktor Janukowitsch. Er hat den Zorn vieler Ukrainer auf sich gezogen, weil er unter dem Druck Russlands ein über mehrere Jahre ausgehandeltes Assoziierungs- und Handelsabkommen mit der EU kurzfristig doch nicht unterzeichnet hatte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.12.2013)

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