Der Sinn unserer Sinne

Richard Wall oder: Die Kunst, unterwegs zu sein. Auf den Fährten von Ivo Andrić, Antonin Artaud, Federico García Lorca, Bruno Schulz und anderen: „Kleines Gepäck“, Berichte aus 15 Jahren und 16 Ländern.

Vor Jahren, in einer Würdigung des lange vergessenen, dank seiner Bemühung wiederentdeckten Schriftstellers Ludwig Winder, hat Karl-Markus Gauß geschrieben: „Ach, herrschte doch wenigstens in der Literaturgeschichte jene Gerechtigkeit, deren wir schon sonst im Leben bitterlich genug entraten müssen.“ Dieser Stoßseufzer kommt mir in den Sinn, sooft ich mich mit dem Werk des oberösterreichischen Autors, Grafikers und Kunsterziehers Richard Wall beschäftige. Wall hat seit seinem Erstling mit Nachrichten „aus der Pendlerprovinz“ („Ringsherum Schnee“, 1987) 20 Gedicht- und Prosabände veröffentlicht, einer schöner und gehaltvoller als der andere, und doch muss man der literarischen Öffentlichkeit immer wieder aufs Neue sagen, was sie an diesem Einzelgänger hat, der sich nach Gemeinschaft sehnt und sich ihrer, reisend, auch versichert.

Darf man Wall denn überhaupt als einen Reisenden bezeichnen? Im Vorwort zu einer Auswahl seiner Gedichte, in der Porträt-Reihe der Literaturzeitschrift Podium, hat Christian Teissl das Fortbewegen seines Freundes nicht als Reisen, sondern als Unterwegssein beschrieben – Wall sei „unterwegs zu den vielen innereuropäischen Peripherien, unterwegs aber auch in den Werken und auf den Spuren von Persönlichkeiten, die er als Meister verehrt oder als Verwandte im Geiste empfindet“. Während die meisten Kollegen, Kolleginnen der schreibenden Zunft, wie Igelmann und Igelfrau im bekannten Märchen, sofort Wendepunkt und Ziel des literarischen Parcours besetzen, rennt Richard Wall in die Welt hinaus, von seiner Entdeckerfreude und ebenso vom heimlichen Wunsch geleitet, Verbündete im Kampf gegen die Miserabilität der Gegenwart zu finden. Immer will er etwas erstreiten, das außerhalb der üblichen Wahrnehmung von Kunst und Gesellschaft liegt. Er ist ein gelehrter, nicht ein belehrender Autor, und man kann beobachten, wie er sich den Gegenstand seiner Begierden erschließt: mittels Recherche und genauer Erkundung, durch Geistesgegenwart und mit viel Herzblut.

Besonders deutlich zeigen sich seine weit gestreuten Interessen in der Zusammenschau der verstreut publizierten Aufsätze, Glossen und Reportagen. In seinem jüngsten Prosaband, „Kleines Gepäck“, versammelt er Berichte aus 15 Jahren und 16 Ländern, für die er den Fährten von Antonin Artaud und Ivo Andrič, James Joyce und Bruno Schulz, Petr Bezruč und Bohumila Grögerová, Miguel Torga und Federico García Lorca gefolgt ist. Zwischendurch besucht er Hans Wollschläger und Wolf Suschitzky, erinnert sich an eine Wirtshauslesung von Franz Kain (die ihn in seine Jugend und noch weiter zurück in den Partisanenkampf im Ausseer Land katapultiert), liest aus den Altersfotos österreichischer Spanienkämpfer deren wechselhafte Biografien heraus und nimmt die politischen Wandmalereien in der sardischen Ortschaft Orgosolo zum Anlass, noch andere Ausdrucksformen einer jahrhundertelang marginalisierten Kultur zu würdigen.

Besonders innig, das erweist sich auch bei der Lektüre dieses Buches, hat Wall sich mit Böhmen und Irland befasst, Wahlheimaten vielleicht deshalb, weil er da wie dort künstlerische Bemühungen wahrzunehmen glaubt, die gesellschaftliche Aufbrüche begleiten, sie nicht – wie hierzulande üblich – verleugnen, verhöhnen oder zu Romanen verwursten. Das ist der eigentliche Antrieb seiner Schaffensfreude: dass Wall sich nicht abfinden will mit der Trennung von Künstler und Volk und bei aller Erbitterung über Missstände in der Mühlviertler Pendlerprovinz, in der er aufgewachsen ist und weiterhin wohnt, davon überzeugt ist, dass es sich auszahlt, nicht aufzugeben – auch wenn ihn oft die böse Ahnung plagt, mit seinem Handeln und Schreiben das Wasser zu pflügen.

Das Unterwegssein bringt ihn auf andere Gedanken, zumal er sich nicht nur in alle Himmelsrichtungen fortbewegt, sondern auch in die Geschichte zurückgeht, auf der Suche nach Gefährten, „Weggenossen“ nennt er sie. „Denn ich erzähle“, hat er in seiner Vorbemerkung geschrieben, die als Absichtserklärung wie als Erfolgsmeldung ge-lesen werden darf –, „denn ich erzähle und verknüpfe das Erlebte mit dem unsichtbaren Dahinter, mit dem Palimpsest der Jahrhunderte; Vergangenes und Gegenwärtiges werden eins in einem Bewusstsein, das das Geschaute mit dem Gelesenen assoziiert, die großen und kleinen Erzählungen im Erleben überprüft.“

Unterwegs zu sein, bedeutet auch: sich zu schützen gegen die Gefahr abzustumpfen oder, daheim im stetigen Kleinkrieg gegen die Zubetonierer und Rasenhecken-Behübscher stehend, die Schinderei von einst für eine Idylle anzusehen. In der „Spurensuche in Pula“ gibt es, wie auch in anderen Reportagen, eine Überblendung, geschuldet der Erinnerung an eine frühere Suche: Der Autor folgt, in Gesellschaft seiner Frau Monika, der Route, die die beiden, frisch verliebt, vor 26 Jahren eingeschlagen hatten. In der Zwischenzeit war geschehen: der Zerfall eines Staates, mehrere Bürgerkriege, das Rasen der Barbarei. Kein Anzeichen dafür war ihnen aufgefallen, im Zugabteil, auf der Fahrt durch Istrien, „und nur wir / hingen neugierig am Fenster, klebten mit den Augen / in der Landschaft, um keinen Stein zu übersehen / keine Ansiedlung aus Stein zwischen den Felsen / und keine Mauer aus Stein, denn / durch ein von Steinmauern geteiltes Land fuhren wir“.

Auch dies können wir von Richard Wall, der am heutigen Samstag 60 wird, lernen: dass Wissen und Leidenschaft nicht ausreichen, Katastrophen vorherzusehen. Aber dass es sich lohnt, sie aufzubringen, denn: „Der Zugang zur Welt über den Sinn unserer Sinne, über Schrift und Bild, muss immer wieder freigeräumt werden.“ ■

Richard Wall

Kleines Gepäck

Unterwegs in einem anderen Europa. Prosa. 278 S., brosch., €19 (Kitab Verlag, Klagenfurt)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.12.2013)

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