Umwelthistoriker untersuchen, welche Konsequenzen der Bau von technischer Infrastruktur für den Winterfremdenverkehr für ländliche Regionen hat.
Vor 100 Jahren war Damüls – so wie viele hochalpine Orte – ein sterbendes Dorf. Durch den Bau der Arlbergbahn konnten Rohstoffe und Lebensmittel billig importiert werden, dadurch blühte die Textilindustrie im Rheintal auf, viele Menschen zogen vom Berg ins Tal, der Anbau von Erdäpfeln in Bergdörfern ging stark zurück. Das Ergebnis: Die Einwohnerschaft von Damüls in 1400 Metern Seehöhe zwischen Bregenzer Wald und dem Großen Walsertal halbierte sich in wenigen Jahrzehnten auf 200 Menschen. Zurück blieben v.a. Ältere, die in immer größerer Not lebten.
Dann – plötzlich – erschien ein Hoffnungsschimmer: In den 1920er-Jahren reisten die ersten Skiläufer an. Sie kamen aus der Stadt und wollten die unberührte Natur genießen. Leer stehende Bauernhöfe wurden zu Beherbergungsbetrieben, Gaststätten, Hütten umgewandelt, für die neuen Gäste wurde 1932 ein Schlittentransport organisiert, bald folgte ein elektrisches Kleinkraftwerk (das nur für den Tourismus genutzt wurde, nicht aber von den lokalen Bauern).
Für die Bewohner bedeutete der Winterfremdenverkehr eine neue Einnahmequelle, nach der man sich sukzessive umorientierte. „Die Menschen konnten ihren Status im Dorf verbessern, wenn sie sich dem Tourismus widmeten“, erläutert Verena Winiwarter, Umwelthistorikerin am Institut für Soziale Ökologie der Uni Klagenfurt. Und wenn nicht Wirtschaftskrise, 1000-Mark-Sperre und Zweiter Weltkrieg dazwischengekommen wären, hätte man in Damüls wohl auch einen Skilift gebaut – so wie 1937 in Lech.
Was dann, nach der Zäsur durch den Krieg, kam, steht im Zentrum eines dreijährigen FWF-Projektes, in dem unter Winiwarters Leitung der alpine Skilauf und die Umgestaltung alpiner Täler im 20.Jahrhundert erforscht wird. „Die Umweltgeschichte des Wintertourismus in den österreichischen Alpen ist bislang ungeschrieben“, stellt die Forscherin fest. Einen ersten Schritt, um diese Lücke zu füllen, macht ihr Team nun am Beispiel von Vorarlberg – und da wiederum anhand dreier Fallstudien in Lech, Schruns und Damüls. Vorarbeiten dazu hat bereits der Dissertant Robert Groß gemacht, der die Geschichte von Damüls aufgearbeitet hat.
Kolonisierung der Natur
Die Geschichte in Kurzfassung: 1952 wurde die Straße nach Damüls so weit verbessert, dass sie für Pkw und Busse befahrbar wurde. 1957 wurde der erste große Schlepplift gebaut, in der Folge wurden viele neue Betriebe gegründet – und erstmals seit 70 Jahren wuchs die Bevölkerung wieder. Um mit den wechselhaften Schneebedingungen fertigzuwerden und die Lifte auszulasten, wurde Mitte der 1960er-Jahre ein Pistengerät – genannt „Lisele“ – gekauft. Nach dem Bau weiterer Lifte folgte 1991 die erste Beschneiungsanlage. Jüngster Höhepunkt ist die – von Naturschützern vehement kritisierte – Verbindung mit dem Nachbarort Mellau 2009 zu einer Skischaukel.
Aufschlussreich ist die Analyse dieser Geschehnisse aus Sicht der Umweltgeschichte – dieses Fachgebiet beschäftigt sich mit der wechselseitigen Beeinflussung von Mensch und Umwelt. Das grundlegende Denkmodell dabei heißt „Kolonisierung der Natur“: Gesellschaften greifen in die Natur ein, um den erwünschten Output zu erhöhen. Sie errichten z.B. Infrastrukturen, um gesellschaftliche Funktionen dauerhaft zu sichern.
Ein Folge davon ist eine „Selbstbindung“ der Gesellschaft: Die Arbeit muss dauerhaft geleistet werden, um ein kolonisiertes System in einem bestimmten Zustand zu halten. Ein Beispiel: Um Weiden frei von Bewaldung zu halten, müssen sie ständig gepflegt und mit Vieh beweidet werden – früher, um ausreichend Almflächen zu haben, heute, damit die Skipisten nicht zuwuchern. „Sämtliche Naturressourcen, die in Damüls vorkommen, sind in den touristischen sozionaturalen Schauplatz integriert“, formuliert es Groß. „Auch die gesamten öffentlichen Einrichtungen sind auf dessen Erhalt ausgerichtet.“ Die ehemalige bäuerliche Streusiedlungsstruktur ist heute Geschichte: Die Bebauung konzentriert sich nun entlang der Lifttrassen und um die Tal- und Bergstationen – und daran müssen auch alle kommunalen Systeme, von Stromversorgung bis Kanalisation, orientiert sein.
Risikospirale dreht sich
Groß hat sich kürzlich ein Detail des Umgestaltungsprozesses angesehen: die Rolle des ERP-Fonds beim Bau von Skiliften. Bald nach dem Start des Marshallplans 1948 kam der Gedanke auf, den Wiederaufbau der Wirtschaft auch durch den Fremdenverkehr zu stützen. Die niedrig verzinsten ERP-Kredite waren – neben der Förderung von „preisbilligen Beherbergungsbetrieben“ oder einer „Sanitäraktion“ – bis in die 1970er-Jahre die zentrale Förderaktion für den Aufbau von Seilbahnen und Skiliften.
Per ERP-Kredit wurde in Damüls in den 1960er-Jahren z.B. der Uga-Sessellift gebaut. Dieser Hang, der in den 1920ern bei Skitourengehern sehr beliebt war, wies aber wegen seiner exponierten Lage raue Schnee- und Windverhältnisse auf, war oft eisig und eignete sich nur für geübte Skiläufer. Der Lift war daher unrentabel. Da die Rückzahlungsraten trotzdem fällig waren, wurde die Pistenraupe gekauft, um die Pistenverhältnisse zu verbessern und dadurch das Geschäft anzukurbeln.
„Die Ökonomie verändert die Ökologie, die wieder die Rahmenbedingungen für die Ökonomie beeinflusst“, sagt Winiwarter. Durch Eingriffe in das sozialökologische System werden zwar bestimmte Nachhaltigkeitsprobleme gelöst, dadurch entstehen aber neue: Eine „Risikospirale“, so heißt ein weiterer Zentralbegriff der Umweltgeschichte, beginnt sich zu drehen. Das Problem der Abwanderung der Damülser wurde z.B. durch den aufkommenden Tourismus teilweise gelöst – genauso wie die mangelnde Rentabilität des Lifts durch den Ankauf der Pistenraupe gelindert wurde. Das schwere Gerät verdichtet aber den Schnee, weshalb er später schmilzt. Die Bauern wollen die Flächen dennoch nutzen und begannen, im Frühling dunkle Substanzen – früher das umweltschädliche Thomasmehl, heute Steinmehl – aufzustreuen, damit die Eisflächen abtauen. Bei geringer Schneelage beschädigen Pistenraupen zudem die Grasnarbe – im Frühling wird daher oft nachgesät.
Die Risikospirale dreht sich weiter: Da die Infrastrukturen immer kapitalintensiver wurden, musste das Risiko von schneearmen Wintern minimiert werden – was unmittelbar in den Bau von Beschneiungsanlagen mündete. Da die Bäche schon bald übernutzt waren, wurden Beschneiungsteiche in die hochalpine Landschaft gegraben. „Man ist in einer Wachstumslogik gefangen“, kommentiert Winiwarter. Groß zieht folgendes Zwischenresümee: „Eingebettet in ein Netzwerk aus Skiliftanlagen, ökologisch veränderte Skipisten und Beschneiungsanlagen sind Dörfer wie Damüls heute ,eingefroren‘ auf dem wintertouristischen Entwicklungspfad.“ Dieser werde nun aber durch den Klimawandel infrage gestellt – durch den neue Risken und Unsicherheiten drohen.
IMAGEWANDEL
Bis zum Erstarken der Ökologiebewegung wurde die technische Erschließung der Alpen (beinahe) uneingeschränkt positiv gesehen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2013)