Die Katastrophe von Lampedusa und ihre Folgen

"Festung Europa". Die EU verstärkt die Außenkontrollen und will mehr Schiffbrüchige retten. Die neue Fluchtbewegung betrifft auch Österreich.

Als Mitte Oktober 360 Flüchtlinge aus Afrika in einem tosenden Sturm im Mittelmeer nicht weit vor der italienischen Insel Lampedusa ertranken, herrschte für eine kurze Weile Betroffenheit und Entsetzen. Der Grazer Philosoph Peter Strasser forderte in einem emotionsgeladenen Aufruf die Erweckung von kollektivem schlechtem Gewissen in Europa. Er begründete das damit, dass wir Europäer Nutznießer der Folgen des Kolonialismus seien, die die Menschen zwingen, ihre Heimat zu verlassen.

Aber soll man für Zustände oder Ereignisse ein schlechtes Gewissen haben, an denen man keine Schuld trägt? Das wäre eine Art moralischer Allmachtsfantasie, die eine Spezialität der Grünen ist.

Die Anwälte der Humanität

Andere verlangten gleich die Öffnung der Grenzen Europas für alle, die hier „auf die Suche nach ihrem Glück gehen“ wollen, wie es die amerikanische Unabhängigkeitserklärung verheißt. Dass Europa gar keine andere Wahl hat, als die Zuwanderung zu steuern und damit zu begrenzen, wird dann mit dem Vokabel von der „Festung Europa“ denunziert.

Es stört das Gerechtigkeitsgefühl dieser Anwälte der Humanität auch nicht, dass nur jene auf die Suche nach dem Glück in Europa gehen können, die das enorme Geld für die Schlepper – so heißen die arabischen Sklavenhändler heute, die das Geschäft an den afrikanischen Küsten seit Jahrhunderten betreiben – aufbringen können.

Unter die moralischen Rundumschläger reihte sich auch der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz. Europa brauche ein „legales Einwanderungssystem“, damit Menschen nicht mehr gezwungen seien, sich „unmoralischen Schleppern auszuliefern“, erklärte er. So, als ob er nicht wüsste, dass es die Gesetze zur legalen Einwanderung längst gibt.

In Österreich heißt das Instrument der legalen Immigration Rot-Weiß-Rot-Card. Nur nützt die niemandem, der der Hölle von Eritrea oder Somalia und im Kriegsland Syrien entfliehen möchte.

So ahnungslos darf der Präsident des EU-Parlaments nicht sein, zu meinen, jemand schaffe es ohne Schlepper vom Horn von Afrika an die Südküste des Mittelmeers. Er weiß auch, dass die Wiedereinführung des Botschaftsasyls nicht zur Debatte steht – ganz abgesehen davon, dass es in den genannten „failed states“ gar nicht praktikabel wäre.

Der Präsident fordert eine „gerechtere“ Aufteilung der Flüchtlinge auf alle 28 EU-Staaten. Das klingt plausibel, würde aber nicht verhindern, dass Frauen und Kinder im Meer vor Lampedusa ertrinken. Verteilen kann man nur jene Flüchtlinge, die überhaupt in Lampedusa angekommen sind.

Als Reaktion auf den Tod der 360 hat EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström ein Programm vorgestellt, mit dem einerseits die illegale Einwanderung in die EU zurückgedrängt werden, anderseits mehr Menschen aus Seenot gerettet werden sollen. Dabei greift die EU auf schon bekannte Methoden und bestehende Agenturen zurück.

Erweitert werden sollen vor allem die Aktionen der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, die dafür wieder mehr Mittel erhält. Ab April soll Frontex in Zusammenarbeit mit den Mittelmeer-Anrainerstaaten regelmäßige Patrouillen auf den bekannten Migrationsrouten fahren. Hauptzweck dabei ist aber nicht die Rettung von Schiffbrüchigen, sondern Überwachung und Grenzschutz. Unterstützt wird das durch das eben in Betrieb genommene elektronische Überwachungssystem Eurosur.

Ruf nach mehr Hilfe

Der politische und polizeiliche Kern des Programms ist der Versuch, die Schlepper noch am Ausgangspunkt zu bekämpfen und so zu erreichen, dass die Menschen Afrika gar nicht erst verlassen. Im Rahmen von „Mobilitätspartnerschaften“ sollen den Transitländern erleichterte Visabedingungen angeboten werden, wenn sie sich ihrerseits zur besseren Überwachung ihrer Grenzen bereit erklären. Beim wichtigsten Ausgangsland der gefährlichen Fahrten über das Mittelmeer, in Libyen, herrscht allerdings politisches Chaos und es gibt keinen Ansprechpartner für solche Gegengeschäfte.

Es gehört mittlerweile zum allgemeinen Wissen, dass man das Flüchtlingsproblem nicht in Europa lösen kann, sondern es an seinem Ausgangspunkt bekämpfen muss. Solange die Chancen größer zu sein scheinen als das Risiko und der Preis, werden Menschen ihre Heimat verlassen wollen.

Der Ruf nach mehr Entwicklungshilfe mag gut gemeint sein, wenn er nicht überhaupt nur als Beschäftigungsvorwand für diverse Organisationen erhoben wird. Die Billiardensummen aber, die seit Jahrzehnten nach Afrika geflossen sind, haben bestenfalls punktuelle Verbesserungen gebracht.

Langfristige Chancen haben die afrikanischen Staaten nur, wenn sie ins System der internationalen Arbeitsteilung – also der Globalisierung – einbezogen werden. Dazu brauchen sie aber faire Handelsbedingungen. Die europäische Praxis muss sich dabei von den modernen Ausbeutungssystemen unterscheiden, wie sie vor allem Indien und China in Afrika etabliert haben. Wenn Europa weiter den afrikanischen Markt mit subventionierten Lebensmitteln überschwemmt, wird sich dort keine selbst tragende Landwirtschaft entwickeln können.

Viele Gründe für die Flucht

In den Flüchtlingsströmen über das Mittelmeer kommen Menschen zusammen, die aus verschiedensten Gründen ihre Heimat verlassen: Krieg und Bürgerkrieg, Verfolgung, Chaos und Unsicherheit in zerfallenden Staaten, materielle Not. „Mixed migration flows“ heißt das im EU-Jargon. Das stellt auch das europäische System von geregelter Zuwanderung und Asylgewährung infrage, das der komplexen Wirklichkeit von Motiven und objektiven Fluchtbedingungen oft nicht mehr gerecht wird. Migranten sind auch die entsprechend der Arbeitnehmerfreizügigkeit einwandernden EU-Bürger.

Jedenfalls wird man weiter die Kategorien von gesteuerter legaler Migration und Asyl auseinanderhalten müssen. Bloße materielle Not, so drückend sie auch sein mag, kann weiter kein Asylgrund sein. Das würde europäischem Recht und wohlverstandenem Interesse widersprechen und auch letztlich das oft lebensrettende Asylrecht zerstören.

Antrag auf Asyl kann aber auch nicht automatisch bleibenden Aufenthalt nach sich ziehen. Ein Irrtum, dem zum Beispiel die Besetzer der Votivkirche und ihre Unterstützer unterlegen sind. Die Kontrolle und Aufrechterhaltung der Außengrenzen ist auch die Garantie für die innere Bewegungsfreiheit in der EU, was oft kaum bedacht wird.

Gute und schlechte Migranten

Ohne die Kategorien zu vermischen wird man aber sinnvollerweise nicht mehr zwischen „guter Migration“ nach den Regeln der Rot-Weiß-Rot-Karte oder der EU-Binnenwanderung und „schlechter Migration“ über Asylgewährung unterscheiden können.

Letztlich wird jeder Zuwanderer nach seiner Rolle, die er für Arbeitsmarkt und Gesellschaft spielen kann, betrachtet werden müssen. Das ist in seinem und auch im österreichischen Interesse.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.12.2013)

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