Für die EU verzerren Industrie-Ausnahmen den Wettbewerb. Fallen sie, stehen bis zu 800.000 Jobs auf dem Spiel – und das deutsche System der Energiewende.
Berlin. Erst zwei Tage ist die neue deutsche Regierung im Amt, und schon steht sie vor einer gefährlichen Kraftprobe mit Brüssel. EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia hat am Mittwoch ein Beihilfeverfahren gegen die deutsche Ökostrom-Förderung eingeleitet. Die EU-Kommission vermutet, dass die Rabatte für stromintensive Industrien den freien Wettbewerb im Binnenmarkt verzerren. Anders als befürchtet, sieht sie aber in der Subventionierung von erneuerbaren Energien selbst keinen Verstoß gegen EU-Recht. Aber auch ein Verbot der Rabatte stellt die deutsche Energiewende infrage.
Vordergründig könnten sich Privathaushalte freuen, wenn sich die ständig steigende Ökostromumlage – 2014 werden es 23,5 Mrd. Euro sein – gleichmäßiger auf alle Stromkunden verteilt. Aber in der Industrie, die im internationalen Wettbewerb auf niedrige Strompreise angewiesen ist, stehen bis zu 800.000 Arbeitsplätze auf dem Spiel. In diesem Jahr haben sich rund 1700 Unternehmen durch Rabatte vier Mrd. Euro erspart. Im schlimmsten Fall müssten die Stahl-, Chemie- und Zementkonzerne die Einsparungen für mehrere Jahre zurückzahlen. Wenn sie dafür aktuell Rückstellungen bilden müssen (was laut Wirtschaftstreuhändern „im Einzelfall“ zu entscheiden ist), kann schon die Einleitung des Verfahrens Jobs kosten.
Mehr Markt für grünen Strom
Entsprechend scharf schießt Berlin zurück. Eine Schwächung der deutschen Industrie werde sie nicht hinnehmen, versprach Kanzlerin Merkel. Wenn beide Seiten keine Kompromissbereitschaft zeigen, kann sich das Verfahren über Jahre ziehen. Am Ende müsste der Europäische Gerichtshof entscheiden. Viel spricht aber dafür, dass es Brüssel vor allem um Auswüchse bei den Ausnahmen geht. Ihre Zahl steigt rasant an. Längst sind viele Unternehmen darunter, die nicht im internationalen Wettbewerb stehen, wie Straßenbahnen oder Schlachthöfe. Diesen Wildwuchs will auch die neue Große Koalition eindämmen, bei einer für März geplanten kleinen Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetztes.
Noch größeres Ungemach droht von anderen Plänen, die Almunia ebenfalls präsentierte: Er will die Ökostromförderung in der ganzen EU marktkonformer machen. Dazu sollen europaweite Ausschreibungen für neue Anlagen gehören, aber auch eine maximale Frist für fixierte Einspeisevergütungen von zehn Jahren (in Deutschland sind es 20). Für diesen Entwurf starten nun Konsultationen. Sollte er durchgehen, sind die Tage für die deutsche Form der Energiewende endgültig gezählt. (gau)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2013)