Bayram Balci: "Erdogan spielt ein riskantes Spiel"

Der Politikwissenschaftler Bayram Balci vom Think Tank "Carnegie Endowment for International Peace" im Gespräch über die Gülen-Bewegung.

Die Presse: Wann genau hat die Kooperation zwischen dem Prediger Fethullah Gülen und der Regierungspartei AKP begonnen?

Bayram Balci: Es ist schwierig, ein genaues Datum zu nennen. Als die AKP an die Macht kam, war eine Kooperation zwischen den beiden „Familien" einfach, da die Agenden der Partei den Visionen von Gülen sehr ähnlich waren. Vor allem im wirtschaftlichen Bereich sowie bei der Bedeutung von Religion haben beide Persönlichkeiten dieselbe Wahrnehmung. Und sie haben dieselbe Haltung zum säkularen Staat, ihr Modell ist allerdings mit den USA zu vergleichen, nicht mit dem Säkularismus in Frankreich.

Wie haben beide Seiten voneinander profitieren können?

Die Gülen-Bewegung wurde von der Regierung geschützt. Gesetze zugunsten der islamischen Lebensweise wurden verabschiedet, das war im Sinne der Gülen-Bewegung. Für die AKP gilt: Sie hat von den vorhandenen Strukturen der Bewegung profitiert. Tatsächlich haben viele Gülen-Sympathisanten die AKP gewählt - und der Gülen-Bewegung nahe stehende Medien wie „Zaman" und „Samanyolu" haben die Arbeit der Partei gelobt. In Summe war es eine fruchtbare „Heirat".

Noch konkreter: Was hat Gülen zum Aufstieg Erdogans und der AKP beigetragen?


Einen Einfluss gab es freilich in der Türkei, aber auch in außenpolitischen Belangen. Die moralische und mediale Unterstützung hat geholfen, Erdogans Ideen in der Gesellschaft bekannt zu machen.

Wann war der Zeitpunkt, an dem sich die Wege von Gülen und Erdogan getrennt haben?


Ich denke, es hat mit einer außenpolitischen Differenz begonnen. Nach 2008 und 2009 hat sich die Rhetorik der türkischen Regierung gegenüber Israel geändert, das hat den Gülen-Anhängern nicht gefallen. Der Grund ist simpel: Die Gülen-Bewegung ist ein international und global agierendes Netzwerk und hat keine strengen und rauen politischen Ansichten. Gülen lebt in den USA und hat dort einen israelischen Freundeskreis, er pflegt Kontakte mit jüdischen Organisationen. Es gibt aber auch andere Punkte. Erdogan hat gute Beziehungen zum Iran, zumindest bis zum syrischen Bürgerkrieg. Die Gülen-Bewegung sieht das kritisch.

Es gibt keinen Antisemitismus innerhalb der Gülen-Bewegung?


Ich denke nicht, dass Gülen ein Antisemit ist. Früher hat er antijüdische und antichristliche Schriften veröffentlicht. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat er diese Ansichten überdacht beziehungsweise sich nicht mehr negativ geäußert.

Hat die AKP genug Macht, um die Gülenisten aus ihren Reihen und aus der Regierung auszuschließen?


Erdogan spielt ein riskantes Spiel, aber er ist ein schlauer Politiker. Ich denke, er hat diesen Schritt gut durchdacht. Das Risiko für ihn besteht darin, dass die Gülen-Bewegung über ein weites Netzwerk verfügt - etwa die Medien - und damit kann sie gegen die Regierung wettern. Gülen kann seine Anhänger dazu animieren, andere Parteien als die AKP zu wählen. Aber auch für die Bewegung ist es ein Riskio. Wenn Gülen andere Parteien unterstützt, kann er diskreditiert werden. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Gülen die Sozialdemokraten unterstützen wird.

Aber was könnte es für die AKP bedeuten, wenn Gülen seine Unterstützung drosselt?


Die Gülen-Bewegung hat keine Alternative. Gülen kann unglücklich oder unzufrieden mit der Regierung sein, aber seine Bewegung und die AKP haben immer noch dieselbe Basis. Dennoch können wir nicht einen totalen Bruch ausschließen. Wenn Gülen andere Parteien unterstützen sollte, dann wohl, um die AKP empfindlich zu treffen, und nicht, weil er anderen Parteien besser findet.

Es gilt als schwierig, Gülen persönlich zu treffen. Aufgrund seiner Zurückgezogenheit wird oft gesagt, dass die Gülen-Bewegung wie eine Sekte operiert. Stimmen Sie dem zu?


Es ist gar nicht so schwierig, ihn zu treffen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Bewegung sehr vorsichtig agiert. Viele Interviews können der Bewegung und ihrem Image schaden, daher vermeiden es Gülen und seine Anhänger, öffentlich aufzutreten. Ein anderer Grund könnte sein, dass Gülen seit Jahren krank ist.

Also keine Sekte?


Ich glaube nicht. Als ich begonnen habe, über die Gülen-Bewegung zu arbeiten, habe ich sie mit den Jesuiten verglichen. Freilich trifft das nicht ganz zu, die Jesuiten sind schließlich katholisch und die Gülen-Bewegung muslimisch, aber ich kann viele Gemeinsamkeiten erkennen. Beide Bewegungen sind in sich geschlossen, elitär und konzentrieren sich auf die Bildung. Ich würde eine Beeinflussung der Jesuiten nicht ausschließen.

Wenn wir uns die Türkei vorstellen, die die Ideale der Gülen-Bewegung umgesetzt hat, wie würde das Land aussehen?


Ich glaube nicht, dass die Gülenisten einen islamischen Staat wollen. Was sie wollen, haben sie bereits erreicht: Eine muslimische, konservative und fromme Gesellschaft. Die Bewegung war ja eine soziale Bewegung, sie ist später politisch geworden. Das heißt aber nicht, dass sie eine islamistische Gruppe sind, die einen religiösen Staat wollen. Das Ziel ist eine Türkei, die mit den USA vergleichbar ist: Die Religion ist sichtbar und hat eine tragende Rolle in der Gesellschaft.

Link: Zu den Studien von Bayram Balci

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