Michail Chodorkowskis Flug in die Freiheit

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Nach seiner Begnadigung flog der Ex-Yukos-Boss in einem Privatjet nach Berlin. Der deutsche Ex-Minister Genscher hatte sich für seine Freilassung eingesetzt.

Die Geschichte endet, wie sie begonnen hat: im Flugzeug. Es war vor mehr als zehn Jahren, am 25. Oktober 2003, als Michail Chodorkowski am Nowosibirsker Flughafen in seinem Privatjet verhaftet wurde. Damals war er Chef des Ölkonzerns Yukos, der reichste Mann Russlands, geschätztes Vermögen 15 Milliarden Dollar. Zwei Jahre später wurde er wegen Steuerhinterziehung und Betrugs zu neun Jahren Haft verurteilt, Yukos zerschlagen und in einem umstrittenen Verfahren nationalisiert.
Gestern saß Chodorkowski erneut im Privatjet. Von der nordostrussischen Stadt Segescha an der finnischen Grenze, in der er zuletzt inhaftiert gewesen war, trat er seine Reise in die Freiheit an - in die deutsche Hauptstadt Berlin. Dort traf Chodorkowski am späten Freitagnachmittag auf dem Flughafen Schönefeld ein, in Empfang genommen von Hans-Dietrich Genscher. 

Am Samstag hat Michail Chodorkowski seinen ältesten Sohn Pawel getroffen. "Der älteste Sohn von Michail Borissowitsch, Pawel, hat seinen Papa schon getroffen. Sie sind jetzt in Berlin zusammen", sagte Chodorkowskis Sprecherin Olga Pispanen dem russischen Rundfunksender Moskauer Echo. Den genauen Zeitpunkt des Wiedersehens nannte sie nicht. Auch Chordorkowskis Mutter sei "bereit, nach Berlin zu fliegen, um ihn endlich zu sehen und zu umarmen".

Bedeutende Rolle Genschers

Der frühere deutsche Außenminister Genscher dürfte hinter den Kulissen eine bedeutsame Rolle für die Freilassung Chodorkowskis gespielt haben: Zweimal traf er Putin wegen des Schicksals des Oligarchen, wie seine Sprecherin am Freitagnachmittag bestätigte. Genscher habe sich demnach auf Bitten der Anwälte Chodorkowskis und "aus humanitären Gründen" um eine Freilassung bemüht. Dabei habe Genscher "größtmögliche Unterstützung" von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, dem früheren Außenminister Guido Westerwelle und dem deutschen Botschafter in Moskau erhalten.

Die USA begrüßt die Begnadigung und Freilassung von Chodorkowski. Die USA hätten sich wiederholt besorgt über mutmaßliche Verstöße in Gerichtsverfahren und eine selektive Strafverfolgung in Russland gezeigt, sagte US-Außenminister John Kerry laut einer Mitteilung des Außenministeriums in Washington vom Freitagabend (Ortszeit).

An emergency ministry helicopter takes off from a field next to the Penal Colony 7, where Mikhail Khodorkovsky was held at the village of Segezha
An emergency ministry helicopter takes off from a field next to the Penal Colony 7, where Mikhail Khodorkovsky was held at the village of SegezhaREUTERS

Nach Angaben von „Spiegel Online" bekam Chodorkowskij auf unbürokratischem Wege eine einjährige Aufenthaltsgenehmigung, mit der er sich frei im Schengenraum der EU bewegen kann.
Es war eine gut vorbereitete Ausreise, keine Flucht. Am Freitagmorgen hatte der russische Präsident Wladimir Putin ein Dekret unterzeichnet, wonach er Chodorkowski, seinen einstigen, aufsässigen Rivalen, begnadige. Der Ukas trat mit sofortiger Wirkung in Kraft. Nur ein paar Stunden später, es war 12.20 Uhr Ortszeit, war Chodorkowski frei: Er habe das Gefangenenlager in Segescha verlassen, hieß es in den russischen Nachrichtenagenturen nur lapidar. Chodorkowski wurde in einem Helikopter des Katastrophenschutzministeriums zunächst nach St. Petersburg geflogen. Mit einer eigens gecharterten Cessna ging es danach weiter nach Deutschland.

Wiedersehen der Familie in Berlin

Nicht zufällig ist Deutschland die erste Station: Chodorkowskis betagte Mutter Marina wurde bis vor Kurzem in der Berliner Charité wegen ihrer Krebserkrankung behandelt. Chodorkowski will sie offenbar in der deutschen Hauptstadt wiedersehen.

Genscher erklärte, der nach Berlin gereiste Kremlkritiker Michail Chodorkowski wolle an diesem Samstag mit Angehörigen zusammentreffen. "Ich glaube, dass er jetzt durchatmen wird und darauf warten wird, dass er morgen seine Familie in die Arme schließen kann", sagte Genscher am Freitag den ARD-"Tagesthemen".

Der deutsche Ex-Außenminister sagte, er glaube nicht, dass die Freilassung eine Inszenierung sei. "Es wird sicher eine ernsthafte Prüfung unter Berücksichtigung aller Aspekte gewesen sein." Er würde dies "nicht nur von opportunistischer Seite her betrachten".

Schlüsselrolle für die Mutter

Chodorkowskis Mutter spielt in dem Drama eine Schlüsselrolle - zumindest für die Öffentlichkeit: Der Exoligarch habe ihm ein Gesuch um Begnadigung mit Verweis auf seine kranke Mutter zukommen lassen, hatte Putin am Donnerstag im Anschluss an seine jährliche Pressekonferenz erklärt. Er werde über eine Begnadigung „in nächster Zeit" entscheiden. Dass dies gar so schnell gehen würde, war die zweite Überraschung nach der unerwarteten Ankündigung des Präsidenten.
Erst Ende November hatte Chodorkowskij in einem Gastbeitrag in der „New York Times" geschrieben, dass Marina Chodorkowskaja erneut an Krebs erkrankt sei. „Meine Mutter ist nun beinahe 80 Jahre alt und ist erneut von Krebs und Operationen bedroht", schrieb er damals. „Ihr Sohn ist seit zehn Jahren im Gefängnis, und es ist sehr wahrscheinlich, dass wir uns nie wieder außerhalb einer Haftanstalt sehen werden." Marina Chodorkowskaja beschrieb er als willensstarke Person und moralische Instanz. Einem Wiedersehen dürfte nichts mehr im Wege stehen.

Unter Druck des Geheimdienstes?

Außer Frage steht, dass die Freilassung und Ausreise Chodorkowskijs minuziös geplant war. Spekulationen über das Zustandekommen des Deals machten am Freitag die Runde. In der russischen Zeitung „Kommersant" war von einem Treffen Chodorkowskis mit Geheimdienstmitarbeitern die Rede, das ohne seine Anwälte stattgefunden haben soll. Dabei sei dem Gefangenen gesagt worden, dass sich der Gesundheitszustand der Mutter verschlechtert habe und ihm ein dritter Prozess drohe. Daraufhin habe sich der 50-Jährige, der bisher ein Gnadengesuch verweigert hatte, an Putin gewandt. Von den Anwälten Chodorkowskis war zu hören, dass sie von einem Gnadengesuch nichts wüssten.
Gut möglich, dass der Haftentlassene für längere Zeit im Ausland bleibt (neben Deutschland im Gespräch sind die Schweiz und die USA, wo sein Sohn lebt) - wenn es nicht gar die Voraussetzung für den Deal war. In einem Kommentar in der „New York Times" - einem bissigen Fazit - beklagte er unlängst zum zehnten Jahrestag seiner Festnahme, dass er seine einzige Enkeltochter niemals zu Gesicht bekommen habe.

„Meine Lieben in die Arme nehmen"

Chodorkowski hat während seiner zehnjährigen Haft, die er zunächst im sibirischen Tschita und später in Karelien verbüßte, nicht dem Status des Regierungskritikers abgeschworen. Er veröffentlichte Kommentare in internationalen Zeitungen und schrieb Bücher, unterhielt eine Armada an Anwälten und betrieb eine Website zu seiner Verteidigung. Dort erschien am Freitag eine erste Stellungnahme: „Ich kann es nicht erwarten, meine Lieben in die Arme zu nehmen."

Putins Dekret im Wortlaut

Dekret des Präsidenten der Russischen Föderation über die Begnadigung von Chodorkowski M.B. Ausgehend von Prinzipien der Humanität ordne ich an:

1. Den Verurteilten Chodorkowski Michail Borissowitsch, Jahrgang 1963, geboren in Moskau, zu begnadigen und seine Haftstrafe aufzuheben.

2. Dieser Ukas tritt am Tage seiner Unterzeichnung in Kraft.

Der Präsident der Russischen Föderation, W. Putin Moskau, Kreml, den 20. Dezember 2013.

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(APA/Red.)

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