Die Causa Chodorkowskij illustriert den Konflikt zwischen Staat und Privatwirtschaft im postsowjetischen Russland. In den vergangenen zwei Jahrzehnten suchte ein Teil die Totalherrschaft über den anderen.
Man kann die Freilassung des Ex-Oligarchen Michail Chodorkowskij als vieles lesen. Ein Signal an die private Wirtschaft aber ist sie nicht. Für ein solches wäre es nötig gewesen, dass sich unter den 25.000 Häftlingen, die unter die jetzige Begnadigung fallen, mehr Unternehmer wiederfinden. Viele von ihnen sind unter fabrizierten Vorwürfen nur deshalb inhaftiert, weil sie sich gegen eine feindliche Übernahme ihrer Firma wehrten.
Solche Attacken müssen nicht immer vom Staat kommen. Aber dort, wo es sich richtig lohnt, kamen sie in der Vergangenheit oft vom Staat und den der Staatsführung nächststehenden Figuren. Kein Fall hat das deutlicher gezeigt als jener um Chodorkowskijs einst landesweit größten Ölkonzern Yukos. Zwar werfen manche Unternehmer Chodorkowskij Mitschuld vor, weil er seinen Konzern für den persönlichen politischen Kampf eingesetzt habe. Aber der Appetit der unter den mit Wladimir Putin aus Petersburg nach Moskau übersiedelten Weggefährten wäre auch so groß gewesen. Am Ende wurde Yukos im Jahr 2005 großteils dem damals noch unbedeutenden Staatskonzern Rosneft einverleibt. Als Mastermind der Aktion galt Igor Setschin, Kopf der Hardliner-Fraktion rund um Putin und heute Chef des nunmehrigen Branchenprimus Rosneft, der heuer auch noch den privaten Konkurrenten TNK-BP aus den Händen des einstigen Oligarchen Michail Fridman geschluckt hat.
Ära der Privatmilliardäre. Einst waren die Oligarchen stark gewesen. Zu einem gewissen Zeitpunkt aber kamen Stärkere, Schlauere, Skrupellosere, die noch dazu mit staatlichen Vollmachten ausgestattet waren und auch über die geheimdienstlichen und polizeilichen Dossiers verfügten, mit denen die Oligarchen ausgestochen werden konnten.
Im Unterschied zu heute hatten die russischen Privatmilliardäre in den 1990er-Jahren sehr wohl das Sagen im Kreml. Vor allem die berühmten „sieben Bankiers“: Sie finanzierten den Präsidenten Boris Jelzin über den Weg seiner Tochter, in deren Familie später der nachmalige Multimilliardär Oleg Deripaska eingeheiratet und die inzwischen die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten hat. Zu den berühmten Bankiers gehörte nicht nur Alexandr Smolenski, der ebenfalls in Österreich lebt, sondern auch Michail Chodorkowskij.
Als später im Jahr 2003 Kreml-Chef Wladimir Putin die Oligarchen an die Kandare nahm, verstanden die meisten, dass sich die Zeiten geändert hatten und sie jederzeit über ihre frühen krummen Machenschaften stolpern könnten, wenn sie die neuen Regeln verletzten: Weiterhin gute Geschäfte? Bitte. Ja, sogar erwünscht, weil die Führung ihrer Konzerne ohnehin niemand so leicht hätte übernehmen können. Aber Einmischung in die Politik? Ein klares Nein. Nur einer, dem die Macht zu Kopf gestiegen war, hatte nicht verstanden: Chodorkowskij, der längst seine Wandlung zu einem geläuterten Rockefeller propagierte. Für über zehn Jahre landete er im Gefängnis.
Die Causa Chodorkowskij war folgenschwer, schreibt die Zeitung „Wedomosti“: „Sie schuf eine Atmosphäre der Immunität im Milieu hochgestellter Exekutivbeamter, was zu einer radikalen Verschlechterung des Geschäftsklimas führte. Sie versetzte das Unternehmertum in eine untergeordnete, abhängige Lage, was die Qualität der Wirtschaftspolitik stark verschlechterte und das Signal zum Transfer des Geschäftes in Offshore-Zonen gab. Sie verschreckte die anderen Unternehmer, die unabhängig vom Kreml zivile Projekte finanzieren wollten, was dem nicht kommerziellen Sektor die Möglichkeiten für eine innere Entwicklung nahm.“
Staat und Privatwirtschaft – das geht in Russland nach 70 Jahren Planwirtschaft, einem Jahrzehnt Oligarchie und einem Jahrzehnt Bürokratenkapitalismus neuer Beamtenmilliardäre, dominanter Staatskonzerne und bevorzugter Tycoons aus Putins Judoklub, die allesamt nicht zufällig als Kreml AG firmieren, nicht recht zusammen. Eine konstruktive Koexistenz ist nicht gefunden. Dass die Vertreter des Staates seit Putin in die Wirtschaft drängen und neben dem Machtmonopol und dem Neoimperialismus eben auch die Verschmelzung von Politik und Eigentum betreiben, entspreche jener dreiteiligen russischen Matrize, die Jelzin mit der präsidentenlastigen Verfassung 1993 geschaffen hat, erklärt Lilia Schewtsowa vom Moskauer Carnegie-Institut: „Jelzin ist der Architekt, und Putin stattete das Haus mit Möbeln aus. Die Liberalen der 1990er-Jahre wollen ihre Mitverantwortung nicht wahrhaben.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2013)