Burgtheater: König Lear, fantastisch im Niemandsland

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Peter Stein legt in seiner gut vierstündigen Inszenierung frei, wie hoffnungslos diese Tragödie William Shakespeares wirklich ist. Brandauer in der Titelrolle und ein fein abgestimmtes Ensemble spielen sie mustergültig.

Wenn die Bühne des Burgtheaters leer bleibt, bemerkt man erst die Größe, die Tiefe dieses Raums. Er ist ein idealer Spielplatz, um das Tosen der Elemente in einer vom Sinn entleerten Welt zu zeigen. Diesen Umstand haben Regisseur Peter Stein und sein Bühnenbildner Ferdinand Wögerbauer radikal genutzt für eine beeindruckende Vorstellung von William Shakespeares tiefschwarzem Drama „König Lear“, das 1606 zur Weihnachtszeit in London erstmals bei Hofe aufgeführt wurde.

In der Premiere am Samstag wurde von Stein bei seinem späten Debüt am Burgtheater die Reduktion gefeiert, damit umso mehr Worte, nichts als Worte in ihrer vielschichtigen Bedeutung erklingen. Der Eingang zum Guckkasten besteht aus einem hohen Tor aus Betonblöcken, dahinter ist nichts als eine riesige Box mit geschottertem Boden, die kahlen Wände erstrahlen in Blau oder Beige, und wenn im dritten Akt das Unwetter über die Heide tobt, steigt Nebel auf, ziehen Wolken rasend vorbei, es blitzt und kracht wie vorm Weltuntergang. Die blinde Natur aber ist immer da, selbst wenn Dutzende Statisten ganze Heerscharen spielen und für Momente mit Fahnen ihre Claims abstecken. Shakespeare zeigt in dieser Tragödie den Horror vacui einmalig. Nichts wird uns trösten.

Ein Herrscher aus grauer Vorzeit

Der Hof des großen Herrschers von Albion aber zu Beginn? Ein hölzerner Thronsessel wird ins Zentrum gestellt, da ist der vorzeitliche König (Klaus Maria Brandauer) noch der Mittelpunkt seines Reichs, das wichtigste weltliche Glied in der „great chain of being“. Er will einen letzten Staatsakt vollziehen – den Rückzug von den Tagesgeschäften. Das Reich soll aufgeteilt werden unter seinen drei Töchtern. Als Lear seinen Liebling Cordelia (Pauline Knof) in einem ersten Anfall von Raserei enterbt, weil sie im Gegensatz zu ihren falschen Schwestern dem Vater nicht Schmeicheleien bietet, sondern nur die Wahrheit sagt, zerbrechen die Herzöge von Albany (Dietmar König) und Cornwall (Martin Reinke), die Gatten von Goneril (Corinna Kirchhoff) und Regan (Dorothee Hartinger), die Krone in zwei Hälften. Sie zeigen hier bereits: Da geht bald alles zu Bruch.

Es braucht einen souveränen Regisseur, um dieses komplexe Stück mit seiner rauen und uneinheitlichen Sprache, mit seinen Tier- und Kleidersymbolen, den ständigen Anspielungen auf Blindheit, Erkennen und zu späte Einsicht in solcher Nüchternheit ohne Peinlichkeit zu präsentieren. Einen wie Stein. Er nutzt diese karge Bühne, um immer neue Konstellationen entstehen zu lassen, die die Motive der Figuren verdeutlichen. Die Musik Arturo Annecchinos passt sich dem Geschehen unaufdringlich an.
Stein arbeitet mit Symmetrien, Kontrasten, ja sogar mit einer ausgeklügelten Sinfonie an Farben. Er nutzt die Rampe wie auch den tiefen Raum zur Gänze. Für die barbarischen Misshandlungen, etwa die drastische Blendung des treuen Gloster – Joachim Bißmeier wird vom Höfling zum erbarmungswürdigen Greis. Für die vielen Fluchten, wie die des braven Sohnes Edgar – großartig, wie Fabian Krüger von der Einfalt zum Handeln kommt. Für die Intrigen, wie jene des nach Macht gierenden Bastards Edmund – Michael Rotschopf ist ein subtiler Bösewicht.
Oder für die Brutalität der zur Macht gelangten Töchter.
Die wirkt dann allerdings oft übertrieben. Böse Frauen pflegen auch Understatement. Und der finale Showdown der ungleichen Brüder mit ihren fast mannshohen Schwertern ist doch zu lang geraten. Weit ausholende Szenen wie diese erschöpfen nicht nur die Kämpfer. Ein deutliches Zeichen dafür sind Lacher im Publikum.

Das Zentrum des Stückes aber bleiben ohnehin Lear und seine Narren, umrahmt von allerlei Spielarten der Macht. Imposant ist schon der erste Auftritt des Königs, im fleckigen Pelz, mit Krone und Gerte, die er mit nachlässiger Gebärde benutzt, um auf einer Landkarte das Reich zu teilen. Was Lear hier spricht, ist Gesetz. Brandauer ist noch jeder Zoll ein König. Später wird er in Verblendung der Anführer einer in Felle gekleideten, rohen Rotte. Er wandelt sich zum Rasenden und schließlich zum weisen Narren. Gibt es bei ihm Schwächen? Natürlich. Am Lear muss jeder auch scheitern, um wirklich zu überzeugen, selbst einer der großen Stars des Burgtheaters. Brandauer spielt bis zur Erschöpfung, manchmal auf Kosten der Verständlichkeit. Anders geht es aber nicht. Er zeigt in den gut vier Stunden alle nur denkbaren Varianten der Expression, flüstert und schreit, winselt und heult, er spricht in den großen Momenten jeden einzelnen Zuschauer an, ungeschützt, zerbrechlich schon, entblößt, assistiert von Michael Maertens als offiziellem, buntscheckigen Hofnarren.

Drei Narren im Zentrum des Sturms

Auch Maertens gibt eine Glanzvorstellung. Zwar ist bereits am Ende des dritten Akts Schluss für ihn, aber durch eine geschickte kleine Umstellung des Textes und  Hinzufügen eines Narrenliedes aus „Twelfth Night“ ruft er sich nachhaltig in Erinnerung. Er wird abgelöst von Edgar, der als armer Tom ein verstellter Narr und Wegbegleiter Lears ist. Krüger macht seine Sache fantastisch, er fällt besonders positiv auf in einem erstklassigen Ensemble, mit Branko Samarovski etwa als wackerem Grafen Kent, mit Daniel Jesch, Sven Philipp, Franz J. Csencsits, Rudolf Melichar, Peter Wolfsberger und Robert Reinagl in diversen kleineren Rollen. Sie alle zeigen Charakter und tragen dazu bei, dass dieser Abend kaum je zur Routine wird. Stein hat hier seine Art strengen, ernsthaften Theaters perfektioniert. Ohne Mätzchen oder Ironie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.12.2013)

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