Bei einem Selbstmordanschlag kommen 17 Menschen ums Leben. Die Regierung Putin erhöht die Sicherheitsvorkehrungen.
Moskau/Wien. Um 12.45 Uhr riss die Explosion das südrussische Wolgograd aus der sonntäglichen Mittagsruhe. Mit einem Mal war das Bahnhofsgebäude im Stalin'schen Zuckerbäckerstil hell erleuchtet. Ein Feuerball bahnte sich hinter den hohen Fenstern seinen Weg, das Glas barst, Sekunden später wölbte sich eine graue Rauchwolke aus dem Gebäude. Menschen rannten, gingen in Deckung, andere blieben regungslos auf den Eingangsstufen und dem Vorplatz liegen.
Im Eingangsbereich des Bahnhofs im früheren Stalingrad hatte sich ein Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt. War in ersten Berichten noch von einer Täterin die Rede gewesen, berichtete die Nachrichtenagentur Interfax am Abend, dass es Beweise für einen männlichen Attentäter gibt. Mit ihm starben mindestens 16 weitere Menschen, mehr als 50 wurden verletzt. Der Sprengsatz wurde vor der Sicherheitsschleuse gezündet. Hätte der Täter es durch den Metalldetektor ins Innere des Bahnhofes geschafft, wäre die Opferzahl vermutlich noch höher ausgefallen.
40 Tage vor Sotschi
Der Anschlag ereignete sich 40 Tage vor dem Beginn der Olympischen Winterspiele im südrussischen Sotschi, 690 Kilometer von Wolgograd entfernt. Wolgograd ist nicht zum ersten Mal Ziel einer Attacke, hinter der vermutlich islamische Extremisten stehen: Bereits am 21. Oktober hat sich hier eine Selbstmordattentäterin aus Dagestan in einem Linienbus in die Luft gejagt und dabei acht Menschen getötet und 30 verletzt. Erst am vergangenen Freitag ist in der Stadt Pjatigorsk, ebenfalls im Süden Russlands, eine Autobombe vor einem Gebäude der Verkehrspolizei explodiert; drei Menschen sind dabei ums Leben gekommen.
Auch nach dem offiziellen Ende des Kriegseinsatzes in Tschetschenien im Jahr 2009 ist Russlands Nordkaukausus nicht zur Ruhe gekommen. In mehreren Teilrepubliken – namentlich in Kabardino-Balkarien, Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan – bekämpfen einander seit Jahren radikale Islamisten und russische Sicherheitskräfte. Es ist eine Spirale der Gewalt, ein brutaler Konflikt, bei dem beide Seiten immer wieder auch zivile Opfer in Kauf nehmen: Terroristen werden von den russischen Sicherheitskräften in sogenannten Spezialoperationen ausgeschaltet, bei denen auch Waffengewalt gegen Familienmitglieder eingesetzt wird. Die Islamisten, die ihrerseits gegen die russische Präsenz und für ein islamistisches Emirat im Nordkaukasus kämpfen, antworten mit Überfällen auf militärische und polizeiliche Einrichtungen und mit Terroranschlägen.
Nach einer Periode relativer Ruhe hat der Anführer der Rebellen, der selbst ernannte Emir des Kaukasus-Emirats, Doku Umarow, im Juni bekannt gegeben, dass er die Abhaltung der Olympischen Spiele in Sotschi mit „maximaler Gewalt“ bekämpfen werde – und dabei Angriffe auf zivile Ziele nicht ausgeschließe: „Jede Methode, die Allah uns gestattet, ist erlaubt“, verkündete Umarow in einem Video.
Viele Experten glauben, dass Terroranschläge in Sotschi selbst logistisch nicht durchführbar sind. Der Austragungsort der Olympischen Spiele am Schwarzen Meer ist hermetisch abgeriegelt; Militär und Geheimdienst patrouillieren im schmalen Streifen, der von Wasser auf der einen und von hohen Bergen auf der anderen Seite begrenzt wird.
Anders stellt sich die Lage in den urbanen Zentren Südrusslands dar. Gerade jene dem Nordkaukasus vorgelagerten Städte wie Wolgograd und Pjatigorsk sind aus der Sicht der Rebellen ideale Angriffsziele: Es sind Großstädte mit russischer Bevölkerungsmehrheit in unmittelbarer Nähe zu der Region, in der die Islamisten tätig sind; mit Bussen und Zügen sind die Ansiedlungen leicht erreichbar. Die Islamisten setzen oft gezielt Frauen ein, da sie weniger Aufmerksamkeit erregen als junge Männer.
Ethnische Spannungen
Denn gerade in der südrussischen Ebene haben in den vergangenen Jahren ethnische Spannungen zwischen Russen und Kaukasiern zugenommen, da immer mehr Bewohner des Nordkaukasus auf der Suche nach einem ruhigeren Leben und Arbeit nach Südrussland abwandern. Russische Bewohner fühlen sich durch den Zuzug in ihrem gewohnten Lebensumfeld bedroht.
In diesen Alltagskonflikten, die immer wieder auch mit Fäusten ausgetragen werden, geht es häufig ums öffentliche Auftreten junger Kaukasier, um Sozialnormen und Religionsausübung. Es ist aber auch ein Kampf um sowieso knappe Mittel wie Wohnraum und Arbeitsplätze. Anschläge wie der in Wolgograd tragen dazu bei, das ohnedies angespannte Klima und Misstrauen zwischen den ethnischen Gruppen weiter zu verschlechtern.
Nach dem Anschlag vom Sonntag wurden im Gebiet Wolgograd die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt. Präsident Wladimir Putin erklärte die Tage von 1. bis 3. Jänner 2014 zu nationalen Trauertagen. Und die Anspannung steigt, welche schlechten Nachrichten bis zum Start der Olympischen Spiele am 7. Februar noch eintreffen mögen.
(APA/dpa/Red./som)