Großbritannien: Alles schlecht, was einst so gut war

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Kein anderes EU-Land nahm so viele Migranten auf. Trotz Nutzens wächst der Widerstand.

London. Vor zehn Jahren öffnete Großbritannien (gemeinsam mit Irland und Schweden) zur EU-Osterweiterung seinen Arbeitsmarkt für die Bürger der neuen Mitgliedstaaten. Das brachte dem Land nachweislich wirtschaftlichen Nutzen, eine gesellschaftliche Erneuerung und eine kulturelle Bereicherung. Dennoch glauben heute nur 17 Prozent der Briten, dass der Zuzug ihrem Land genutzt hat. Angesichts dieses Meinungsklimas betreiben die meisten Parteien einen regelrechten Wettbewerb an Scharfmacherei. Was ist geschehen?

1. Überforderung: Vor der Öffnung 2004 sprach die damalige Labour-Regierung von einer erwarteten Zuwanderung von „nicht mehr als 13.000 Menschen“. Gekommen (und zu einem Gutteil auch wieder gegangen sind) sind Millionen. Dass niemand die genauen Ziffern kennt, trägt wesentlich zum Unbehagen bei. Tatsache ist, dass Großbritannien (mit der höchsten Geburtenrate Europas und steigender Lebenserwartung) heute um fünf Millionen Einwohner mehr hat als 2001.

2. Überlastung: Der Zuwachs führte zu starken Belastungen der ohnehin Not leidenden britischen Infrastruktur. Besonders gereizt reagieren viele Briten auf Engpässe im Gesundheitswesen und Verschiebungen im Schulwesen: Für 1,1 Millionen Erstklassler war im vergangenen Oktober Englisch nicht die Muttersprache – 2008 waren es erst 228.000 gewesen. In den zentralen Teilen Londons ist Englisch für Schulanfänger eine Fremdsprache.

3. Verbreitung: Frühere Einwanderungswellen waren meist auf bestimmte Industrien und Regionen konzentriert (etwa Pakistanis in den Textilbetrieben Nordenglands) und daher zum großen Teil kaum oder erst viel später zu bemerken. Heute findet man ein „Sklep Polski“ buchstäblich überall von Land's End bis John O'Groats. Zudem sind die heutigen Zuwanderer keine rechtlosen Bittsteller, sondern hart arbeitende, selbstbewusste EU-Bürger. Der liebste Ausländer ist manchem jener, den man nicht sieht.

4. Wirtschaftskrise: Selbst Einwanderungsgegner räumen heute ein, dass der Druck der Zuwanderung auf Inländerlöhne „vernachlässigbar“ war. Der Wettbewerb durch „billigere“ Zuwanderer hat nicht stattgefunden. Außer Zweifel steht auch, dass die Migranten Arbeiten übernahmen, zu denen die Briten nicht fähig oder nicht willens waren. („Viele Jobs bekamen sie einfach dadurch, dass sie pünktlich zur Arbeit erschienen“, spottet der „Economist“ über die heimische Arbeitsmoral.) Dennoch müssen die Zuwanderer oft als Sündenbock dafür herhalten, dass die Reallöhne heute niedriger als 1993 liegen – woran aber die von britischen Banken verursachten Wirtschaftskrise Schuld trägt. Der kollektive Lohnverlust hat umgekehrt Massenarbeitslosigkeit verhindert, das Land verzeichnet aktuell Rekordbeschäftigung.

5. Vertrauensverlust: Die Tatsachen sprechen also eine klare Sprache, doch für viele Briten zählen Meinungen mehr. „Die Menschen, die sich am meisten beschweren, dass Ausländer unrechtmäßig Sozialleistungen bekämen, geben freimütig zu, dass sie keine Ahnung von den Fakten haben. Aber wenn man sie aufklärt, erklären sie strahlend, dass sie kein Wort glauben“, berichtet der Meinungsforscher Lord Michael Ashcroft, ein Vertrauter von Premierminister David Cameron.

6. Politikversagen: Diese Haltung hat die Politik allerdings selbst erzeugt. Von der Prognose 2004 bis zum Verfehlen aller Versprechungen (zuletzt kündigten die Konservativen ein Drücken der Nettoeinwanderung unter 100.000 Personen im Jahr an, doch allein zur Jahresmitte 2013 hielt man bei 182.000) nimmt die Bevölkerung die führenden politischen Parteien als ratlos und unehrlich zugleich wahr. Bis heute gab und gibt es keinen Plan für den Umgang mit Migration. Der rechte Boulevard und die UKIP-Partei treiben die Konservativen und Labour längst vor sich her.

7. Europa: Die Kontrolle über die eigenen Grenzen wird immer mehr zum Schlachtruf der EU-Gegner, dem die Regierung anscheinend nichts entgegenzusetzen weiß (oder will). Heute ist die Mitgliedschaft in der Europäischen Union akut in Gefahr: 47 Prozent würden derzeit für den EU-Austritt stimmen, nur noch 30 Prozent sind für den Verbleib. Bleiben die Tories an der Macht, wird nach den nächsten Wahlen genau über diese Frage ein Referendum abgehalten.

Wie grotesk die Haltung zu Migranten und Europa bisweilen ist, schildert Wirtschaftsminister Vince Cable mit einem Erlebnis aus seinem Wahlkreis: „Jemand sagte zu mir: Ich habe so genug von all diesen Ausländern, ich wandere jetzt nach Spanien aus.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.01.2014)

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