Woodrow Wilson: Imperialist wider Willen

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Starrsinn und Krankheit machten den US-Präsidenten zum Totengräber seiner Vision eines Völkerbundes. Seine totale Rüstungspolitik hingegen erhob die USA zur Weltmacht.

Der Präsident hatte seine junge Nation 1000 Tage im Zaum gehalten. Monat um Monat bescherten deutsche U-Boote amerikanischen Schiffspassagieren im Atlantik ein kaltes Grab. Unaufhaltsam versickerte der amerikanischer Überseehandel. Und immer ferner schien die Hoffnung, ein „Bund der Völker“ könne einen dauerhaften, gerechten Frieden auf Erden schaffen.

„Amerikas Vorbild muss ein besonderes sein“, hatte Woodrow Wilson, der 28. Präsident der USA, am 10. Mai 1915 vor 15.000 Zuhörern in Philadelphia verkündet. „Es gibt so etwas wie eine Nation, die andere nicht mit Gewalt überzeugen muss, dass sie im Recht ist.“ Nur drei Tage zuvor hatten zwei deutsche Torpedos den britischen Dampfer Lusitania samt 1198 Menschen vor der irischen Küste versenkt – einschließlich 128 Amerikanern. Keine vier Monate zuvor war Wilsons engster Vertrauensmann, Colonel Edward House, auf der Lusitania nach Europa gereist, um den Kriegsparteien Wilsons Vorschlag einer US-moderierten Friedenskonferenz zu unterbreiten.

Bürger zu Soldaten. Doch Wilson, der 1856 in Virginia geborene Spross einer schottischen Calvinistenfamilie und spätere Präsident der Universität Princeton, war nicht weltfremd. Ohne eigene militärische Macht würden seine Appelle an die Europäer ebenso ungehört verhallen, wie die Gefahr wüchse, dass der Krieg die Heimat erreicht. Und so leitete er 1916 eine von nationalem Pathos getragene Militarisierung der USA ein, die das Fundament für ihre künftige Weltmachtrolle bilden sollte. „Ich liebe Frieden“, sagte er. Doch der Preis dafür sei „ein großer Plan für nationale Verteidigung“.

„Wilson schwebte eine Gesellschaft produktiver Bürger vor, die bereitstanden, um als Soldaten zu dienen“, schreibt der Pulitzerpreisträger A. Scott Berg in seiner neulich erschienenen Wilson-Biografie. Rasch militarisierte der Präsident, dem mit dem Slogan „Er hat uns aus dem Krieg herausgehalten“ die Wiederwahl gelungen war, Amerikas Wirtschaft und Gesellschaft von Kopf bis Fuß: Eisenbahnen wurden verstaatlicht, Preise kontrolliert, Lebensmittel rationiert. Als die USA dem Deutschen Reich am 7. April 1917 den Krieg erklärten, umfasste die US-Army nur knapp 300.000 Mann – im Vergleich mit Armeen anderer Länder war das „irgendwo zwischen Belgien und Portugal“, wie der deutsche Generalstab lakonisch festhielt. Ein Jahr später, am 28. Mai 1918, fochten 3500 US-Infanteristen ihre erste Schlacht auf europäischem Boden. Bis Juni sollten rund 1,5 Millionen dieser „Doughboys“ in Europa gelandet sein und den Krieg binnen 100 Tagen entscheiden.

Der Krieg verdoppelte dank höherer Staatsausgaben und einer rasanten Produktivitätssteigerung die Wirtschaftsleistung der USA. Er machte die Großmächte Britannien und Frankreich zu Bittstellern Washingtons. „Europa war komplett von Lebensmittellieferungen der USA abhängig“, schrieb der junge britische Ökonom John Maynard Keynes. Und der Krieg schweißte die bis dahin zerzauste amerikanische Nation zusammen. Der Militärdienst ließ „den jugendlichen Plutokraten das Leben aus einer neuen Perspektive sehen, der Hinterwäldler lernte zu lesen und der Einwanderer Englisch“, hielt Charles Seymour, der spätere Präsident von Yale, fest.

Wilson hatte sein Land somit zu einer imperialen Großmacht aufgerüstet – wider seinen erklärten Willen: „Wir begehren keine Eroberung, keine Herrschaft“, hatte er im April 1917 im Kongress erklärt. „Wir sind bloß Verfechter der Rechte der Menschheit.“

Sein Vehikel dafür, der Völkerbund, erlitt aber Schiffbruch. Bei den Pariser Friedensverhandlungen ließ sich Wilson, schlecht beraten und von Vorboten eines Hirnschlags geschwächt, von den realpolitischen Winkelzügen der Franzosen und Briten über den Tisch ziehen. Daheim in Washington vergab er mit seiner starrsinnigen Haltung, den Vertragstext um kein Jota ändern zu wollen, die Chance auf Zustimmung im republikanisch geführten Senat.

Dieser lehnte den Vertrag von Versailles am 15. März 1920 ab; die USA traten dem Völkerbund gar nicht bei, er blieb zahnlos. Was das hieß, hatte Wilson wenige Monate zuvor warnend festgehalten: „Binnen einer Generation wird es einen weiteren Weltkrieg geben.“ Die Geschichte gab ihm recht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2014)

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