Historiker: "Da war doch einiges richtigzustellen"

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Wo steht die internationale Geschichtswissenschaft über den Ersten Weltkrieg heute? Professor Manfried Rauchensteiner, Österreichs führender Weltkriegshistoriker, erläutert den Stand der Dinge in der Forschung.

Zurzeit erscheinen hunderte Bücher und zigtausende Seiten zum Thema Erster Weltkrieg. Sie selbst haben auch 1200 Seiten beigetragen. Angesichts dieser Fülle an Fachliteratur muss man den Eindruck bekommen, dass jetzt bei diesem Thema eigentlich alles erforscht ist. Ist das so?

Manfried Rauchensteiner: Sicher nicht. Ich habe mir bei meinem Buch zuerst auch die Frage vorgelegt: Lohnt es sich überhaupt, zum Thema noch was zu schreiben? Die Antwort erleichtert hat mein vierjähriger Studienaufenthalt in London, wo ich britische Archive durchgearbeitet habe. Ebenso intensiv habe ich das Staatsarchiv in Wien und kleinere Archive genutzt – und das hat dann gezeigt: Es lohnt sich. Aber grundsätzlich stimmt die Beobachtung: Es sind ungeheuer viele Publikationen erschienen und viele weitere geplant. Allein in Frankreich sind 2013 bis Dezember 168 Bücher zum Ersten Weltkrieg erschienen. Aber es ist ein europäisches Großereignis besonderer Art, und das schlägt sich in einer gewissen Publizität nieder.

Und was erfährt man konkret Neues?

Was sich schon lange als neue Ansätze abgezeichnet hat, sind sozialgeschichtliche Aspekte des Krieges. Es kommen auch Themen dazu, an die ich früher nie gedacht hätte, etwa Trauer. Man geht stärker denn je auf das Leben im Krieg ein. Neue Fragestellungen mischen sich auf fast ideale Weise mit vorhandenen Grundlagen. Die Wiener Archive etwa enthalten ungeheuer viel Material und können umfassende Kenntnisse vermitteln, wenn man nur die richtigen Fragen stellt.

Es gibt inzwischen mehrere Publikationen zur Propaganda, zur Heimatfront, zur Rolle der Frau im Ersten Weltkrieg: Sind solche Themenstellungen nur typische Modeerscheinungen der Geschichtswissenschaft?

Es war zweifellos ein Nachholbedarf vorhanden. Aber der konzentrierte Blick auf einst als Randthemen erscheinende Fragenkomplexe wie etwa Verwundetenvorsorge, Sterben im Krieg oder Gedächtnisschauplätze hat schon vor 20 Jahren eingesetzt.

Und wo ist die klassische Militärgeschichte geblieben?

Militärgeschichte war in den 1960er-und 1970er-Jahren noch etwas exotisch und ein rein von Männern betriebenes Forschungsgebiet, damit auch eine Männergeschichte. Mittlerweile ist Militärgeschichte auch eine von Frauen betriebene Frauengeschichte, aber auch eine von Frauen geschriebene Männergeschichte. Inzwischen ist Militärgeschichte ein selbstverständlicher Teil der Geschichte.

Ergeben sich aus neuen Blickwinkeln und neuen Forschergenerationen auch neue Antworten zum ganzen Kriegsgeschehen?

Natürlich. Die Antworten aber sind immer nur dann interessant, wenn auch die Fragen interessant sind – und sie sind dann fad, wenn fad gefragt wird. Beziehungsweise wenn No-na-G'schichterln gedruckt werden oder wenn man den 25. Bildband zum Ersten Weltkrieg macht. Da ist der Neuigkeitswert relativ bescheiden.

Was haben Sie selbst Neues entdeckt?

Neue Antworten zu Österreich-Ungarn gibt es zum Beispiel da, wo man sich damit beschäftigt, wie sich bestimmte Nationalitäten, die zur Habsburgermonarchie gehörten, im Krieg verhalten haben. Bis in die 1970er-Jahre haben wir vom Ersten Weltkrieg ein Bild vermittelt bekommen, das im weitesten Sinne eine deutschnationale oder deutschösterreichisch-nationale Tendenz gehabt hat. Bei den anderen war dann stark zu differenzieren, je nach Sympathie/Antipathie. Gerade an der Wiener Universität ist etwa die Frage des Verhaltens der Tschechen im Weltkrieg intensiver erforscht worden. Da war einiges richtigzustellen.

Zum Beispiel?

Ich wollte bei meinen Forschungen beispielsweise die Frage beantwortet haben, ob Tapferkeit messbar ist. Das einzige Instrument, um das zu tun, schien mir die Tapferkeitsmedaille, die bedeutendste Mannschaftsauszeichnung also, speziell in den höheren Kategorien. Die goldene Tapferkeitsmedaille ist laut Unterlagen des Kriegsarchivs während des Krieges nur gut 3100-mal verliehen worden. Und da liegen die Tschechen weit, weit vor Angehörigen anderer Nationalitäten. So verschiebt sich das Bild automatisch.

Auf welche anderen großen Themen konzentrierten sich Ihre Forschungen?

Große Themen geworden sind Kriegsgefangenschaft, Internierung, Flucht und Vertreibung. Der Krieg im Osten beginnt ja gerade damit, dass die Einwohner Ostgaliziens aufgefordert wurden, ihre Wohngebiete zu verlassen, damit man dort mit ein paar hunderttausend Mann aufmarschieren konnte. Am Anfang war der Aspekt des Schutzes der Menschen noch dominant. Aber innerhalb der ersten Wochen verschob sich das und es kam zu Zwangsevakuierungen, ja regelrechten Vertreibungen – mit enorm vielen Übergriffen. Flucht und Vertreibung betrafen nach unseren Recherchen ungefähr eine Million Menschen. Ungarn weigerte sich, die aus Ostgalizien und der Bukowina Evakuierten bzw. Vertriebenen aufzunehmen. Allein in Wien landeten daraufhin 200.000 von diesen Menschen, bis die Stadt für den Zuzug gesperrt wurde. Hunderttausende landeten in Nieder- und Oberösterreich, in Salzburg und der Steiermark. Da ist viel Trauer dabei, viel Leidensgeschichte – aber halt ein anderes Leid als das, was die Soldaten zu tragen hatten. Dabei ist das Leid, das Soldaten erlitten haben, genauso erwähnenswert. Was diese Menschen nach schweren Verwundungen gelitten haben, weil sie meistens nicht sofort versorgt werden konnten, sollte nicht einfach in nackten Kriegsstatistiken untergehen.

Gibt es immer noch weiße Flecken in der Weltkriegsforschung?

In den österreichischen Archiven wird es auch in den nächsten 100 Jahren nicht möglich sein, alle vorhandenen Materialien zu durchforsten. Es gibt dort noch immer riesige Bestände an Manuskripten zur Geschichte des Weltkrieges, die kaum irgendwer einmal angeschaut hat, weil sie ein bisschen sperrig sind. Wir haben inzwischen eine gute Untersuchung zu Wien im Ersten Weltkrieg, haben ein paar Studien zu österreichischen Bundesländern. Aber es braucht doch eine Synopsis, sonst bleiben wir bei der Klein-klein-Geschichte. Denn was habe ich von einer minutiösen Darstellung des historischen Geschehens in Unterstinkenbrunn, wenn der größere Zusammenhang fehlt. Erst dieser vermittelt uns ja die Empfindungen des jeweiligen Staates.

Fehlt nicht auch noch so etwas wie eine Globalgeschichte des Ersten Weltkriegs?

Man könnte natürlich so daran herangehen und das globalgeschichtlich darzustellen versuchen. China und Japan sind auf der Seite der Alliierten in den Krieg eingetreten, es gibt ein bisschen Krieg in Ostasien. Australien und Neuseeland haben große Truppenkontingente geschickt, die allerdings in Europa eingesetzt werden. Wir haben einige Kriegsschauplätze in den Kolonialreichen und haben schließlich den Eintritt der Vereinigten Staaten. Dennoch: Der Erste Weltkrieg wird aus seiner europazentrischen Sicht nicht wirklich herauszubringen sein, trotz etlicher exotischer Schauplätze.

Haben die Historiker die Kriegsschuldfrage jetzt endgültig geklärt?

Die wird man niemals endgültig klären. Mein Urteil lautet: Österreich-Ungarn hat ein hohes Maß an Verantwortung für die Entfesselung des Kriegs gehabt, personalisiert in der Gestalt des Kaisers und mit konsequenter Mitwirkung der höchsten staatlichen Instanzen, also der beiden Ministerpräsidenten, im Fall Ungarns sogar des ungarischen Reichstags. Ich spreche also nicht von Schuld, sondern von Verantwortung.

Was ist für Sie denn die wichtigste Lehre aus der Beschäftigung mit dieser Zeit?

Das rührt unmittelbar an der Frage, was wir aus der Geschichte lernen – und da bin ich sehr pessimistisch. Die Wiederholbarkeit von Fehlern aus der Geschichte ist nicht gegeben, genauso wenig wie ich eine bewusst gute Handlung wiederholen kann. Wozu Geschichte einlädt, ist, dass durch intensive Beschäftigung mit ihr der Spielraum für jeden Entscheidungsträger massiv erweitert werden könnte. Lernen aus der Geschichte können aber nur jene, die sich mit ihr beschäftigen. Sicher ist: Sobald der Respekt des einen vor den anderen schwindet und sobald man seine eigene Vergangenheit und Gegenwart auf Kosten der anderen aufzuarbeiten beginnt, geht man garantiert einen falschen Weg. Nationalismus war vor 1914 ein Weg, der in zwei Weltkriege geführt hat.

Steckbrief

1942
kam Manfried Rauchensteiner in Villach zur Welt.

1961 bis 1966
studierte er Geschichte und Germanistik an der Universität Wien.

1975
habilitierte er sich für österreichische Geschichte an der Uni Wien.

1992 bis 2005 war er Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien. Seit 1999 ist er Präsident der Österreichischen Kommission für Militärgeschichte.

Publikationen
Zahlreiche Bücher. Die bekanntesten: „Der Krieg in Österreich 1945“ (1984); „Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955“(1985); „Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914-1918“ (2013).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2014)

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