Die Gesichter eines Vaters

Berührend, klug, intensiv: der Vater-Tochter-Roman der Französin Gwenaëlle Aubry.

In der Psychologie wird über die Vater-Tochter-Beziehung, über die prägende Rolle des ersten Mannes im Leben jeder Frau, schon lange intensiv nachgedacht. In der Literatur gibt es – anders als zur Vater-Sohn-Beziehung, deren literarische Aufarbeitung immer Konjunktur hat – kaum Versuche, diese oft schwierige, in jedem Falle interessante, komplexe Beziehung zwischen Vater und Tochter zu ergründen. Wie packend so ein Vater-Tochter-Porträt sein kann, zeigt die französische Philosophin und Schriftstellerin Gwenaëlle Aubry in ihrem Roman „Niemand“, im Original „Personne“ (2009), der glänzend übersetzt von Dieter Hornig jetzt auf Deutsch vorliegt.

In „Niemand“ begibt sich die Autorin auf die Suche nach ihrem verstorbenen Vater François-Xavier Aubry, Wissenschaftler und Schreiber wie sie selbst – und zeit seines Lebens krank. Er selbst nennt sich harmlos „Melancholiker“, in korrekter Terminologie heißt das Krankheitsbild allerdings „manisch-depressiver Psychotiker“. Die Ehe von Aubrys Eltern geht daher früh in Brüche, danach verschwindet der Vater.

Wenn er sich meldet, verheißt das nichts Gutes. Mehren sich die Wahnvorstellungen, wird er in Kliniken eingeliefert, bessert sich sein Zustand, wird er wieder entlassen. Zweimal findet er eine neue Frau, beginnt ein neues Leben, geht in guten Zeiten auch seiner Arbeit nach – immerhin wird er Professor an der Sorbonne. Aber immer wieder entgleitet ihm alles, kommt er sich selbst abhanden. Seine letzten Lebensmonate verbringt er in einer kleinen Pariser Wohnung, die seine Töchter, die stets seine Beschützerinnen bleiben, für ihn finden. Dort schreibt er, was er seinen Töchtern nach seinem Tod als Vermächtnis hinterlässt: ein Manuskript mit dem Titel „Das melancholische schwarze Schaf“ und den Auftrag: „einen Roman daraus machen“.

26 Annäherungsversuche

Auf eine Weise hat Gwenaëlle Aubry diesen Auftrag mit „Niemand“ erfüllt, auch wenn die kurzen Passagen, die aus diesem Manuskript stammen, nur einen kleinen Teil des Buches ausmachen. Die 26 Kapitel, von A bis Z mit Rollen betitelt, die Aubry ihrem Vater zuschreibt, in denen sie ihn erinnert (als James Bond, als Clown, als ewiges Kind, als Pirat, als Verräter...), sind 26 Annäherungsversuche an den Vater. Sie ergeben kein vollständiges Porträt, sie zeichnen keine lineare Geschichte nach, sie fällen kein Urteil über den Vater und sein Versagen, die Unfähigkeit, sich selbst zu „fassen“, nicht viele, sondern nur einer zu sein. Wenn er es selbst nicht vermochte, wie sollte es dann die Tochter können?

Gerade weil Aubry weiß, was sie nicht kann, was so ein Buch nicht sein kann, gelingt ihr erstaunlich viel. „Niemand“ ist ein ebenso berührendes wie kluges Buch und von großer sprachlicher Schönheit. Es ist ein intellektuelles und liebevolles Porträt einer besonderen Vater-Tochter-Beziehung. Denn auch wenn die Krankheit des Vaters diese Beziehung determiniert, so ist es doch kein Buch nur über diese schreckliche, heimtückische Krankheit. Zuallererst ist es ein Buch über die Verbindung zwischen einem Vater und seiner Tochter. Als solches betrifft es jede Tochter, wird jede Tochter etwas darin finden, woran sie anknüpfen kann mit ihrer eigenen Vater-Tochter-Geschichte.

In Frankreich wurde Aubry, Jahrgang 1971, für „Niemand“ mit dem Prix Femina ausgezeichnet, hierzulande ist sie bisher kaum bekannt. Zu Unrecht,denn Gwenaëlle Aubry ist eine wahre Entdeckung. ■

Gwenaëlle Aubry

Niemand

Roman. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. 152 S., geb., €18 (Droschl Verlag, Graz)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.01.2014)

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