„Wolf of Wall Street“: Wirf den Zwerg und hol das Geld!

The Wolf of Wall Street
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Der Turbokapitalismusfilm „The Wolf of Wall Street“ über den Millionenbetrüger Jordan Belfort ist (hoffentlich) der Beginn von Martin Scorseses Jerry-Lewis-Periode.

Zuerst Zwergenwerfen: Die Zielscheibe steht bereit, den Zwerg hat man extra bestellt – und im Rahmen der gemeinsamen Gaudi debattiert man noch kurz, ob Zwerge eigentlich überhaupt als Menschen einzustufen sind. Martin Scorsese „The Wolf of Wall Street“ beginnt mitten im Alltag in der Brokerfirma Stratton Oakmont: Während in Dauerpartyorgien hemmungslos Prostituierte und Drogen en gros konsumiert werden, scheffelt man Millionen mit zweifelhaften Verkaufsstrategien und betrügerischen Bereicherungsmanövern. Zwischendurch hält Firmengründer Jordan Belfort Motivationsansprachen à la Gordon Gekko: Gier ist gut – und öffnet die Tür zum Spaß ohne Grenzen.

Endlose Exzesse samt Eigeneinlauf

Logischerweise ist „The Wolf of Wall Street“ also Martin Scorseses erste ausgewiesene Komödie seit „After Hours“ (1985). Genau genommen ist der Film ein fast dreistündiges Delirium, das die längste Zeit seine ohnehin schon hysterische Farcenfrechheit steigert: als Höllenkreis der Heiterkeit, virtuos, aber wüst orchestriert nach einer wahren Geschichte. Die Vorlage war Belforts autobiografisches Buch gleichen Titels, geschrieben, nachdem er vom FBI nach langem Anlauf dingfest gemacht wurde – und kooperierte, indem er seine Partner ans Messer lieferte.

So saß Belfort bloß 22 Monate im Gefängnis und traf dort den ehemaligen Kifferkomödienstar Tommy Chong, der ihm nahelegte, seinen Aufstieg und Fall zu Papier zu bringen. Das hätte nicht nur wegen Belforts hemmungslosen Drogenkonsums noch gut in den Film gepasst, aber er ist auch so absurd genug – zwar wurden Details geändert, aber die unfassbarsten Dingen sind Fakten: vom Zwergenwerfen bis zur ausgiebigen Geldwäsche samt in die Schweiz geschmuggelten Dollarbündeln am Körper der Verwandtschaft.

Handlung im herkömmlichen Sinn spielt dabei kaum eine Rolle: Vor allem in den ersten zwei Stunden hastet „The Wolf of Wall Street“ von einer Szene zur nächsten, wobei sich die endlosen Exzesse steigern, bis u.a. die möglichen Kombinationen von illegalen Substanzen und weiblichen Körperöffnungen erschöpfend durchgespielt sind. (Das Schlüsselmoment in der Hinsicht kommt aber wohl, als sich Belfort selbst einen Einlauf setzt, damit die Drogen besser wirken.)

Wer ein analytisches Wirtschaftsexposé erwartet, ist auch am falschen Platz. Scorsese und Drehbuchautor Terence Winter („Boardwalk Empire“) machen Belfort ebenso zum Erzähler: notorisch unverlässlich (sein italienischer Sportwagen wechselt auf Wunsch die Farbe), bis auf einen Punkt. Öfter versichert er, man müsse die gerade abgewickelten Gewinngeschäfte nicht verstehen – nur wissen, dass sie völlig illegal sind. Alles gesagt.

Der Broker als Erbe der Gangster

So gesehen ist Belfort der Erbe der Gangster von Scorseses großen Epen „Goodfellas“ und vor allem „Casino“, dem „The Wolf of Wall Street“ in der schieren Dauer wie der Struktur ähnelt: eine Rückblende als Einstieg für in atemlosem Rhythmus aufgerollte Szenen der Entgleisung. Dabei ist Belfort in all seiner enthusiastischen Skrupellosigkeit eine relativ kleine Nummer im großen Wirtschaftsbetrug, wie längst weltweit klar ist: Man fragt sich, wie Scorseses Film gewirkt hätte, wäre er (wie ursprünglich geplant) noch vor der Finanzkrise 2007 entstanden.

Seine nachgerade ethnografische Meisterschaft der Milieuschilderung hat Scorsese seit „Casino“ nicht so üppig ausgelebt. Den passenden Grundton setzt Matthew McConaughey in einem tollen Auftritt als Mentor, der brustklopfend und summend das Mantra vorgibt. Im Nobelrestaurant Kokain schnupfend, erklärt er Belfort die Erfolgsgeheimnisse eines guten Brokers (Kokain [eh klar], Prostituierte und mindestens zweimal täglich masturbieren). Mit seinen Kompagnons (als rechte Hand: Jonah Hill) wird Belfort so weitermachen. Einmal schwenkt sein ganzes Team auf der Jacht die Arme im Takt zum 1990er-Hit „Hip Hop Hooray“. Die MTV-Sexvisionen der Ära, typische Scorsese-Männerdialoggefechte und Dauerkoller im Geiste von Sex, Drugs and Rock'n'Roll (nur ohne Rock'n'Roll) formen sich zur berauschten Innensicht des trügerischen Konjunkturzeitgeists der zweiten Clinton-Präsidentschaft.

Leonardo DiCaprios entfesselte Darstellung von Belfort  lässt die romantische Verbrämung seines „großen Gatsby“ vergessen. Als modernisierter Millionenbetrüger verkörpert er eine Epoche, in der nur noch eines zählt: wie man (sich) verkauft. Und wenn in einer unbeschreiblichen Episode verspätete Drogenwirkung in Superzeitlupen-Slapstick-Ekstase mündet, wird vollends klar, dass Scorsese endlich in seine Jerry-Lewis-Periode eingetreten ist: Dessen Spätwerk als Regisseur fasste den Schrecken des Spätkapitalismus in große Depressionskomödien. Für den Turbokapitalismus hat Scorsese jetzt die Turbovariante gedreht. Bis zum bitteren Ende mit einer Schlussszene, die auch daran erinnert, dass man mit einem Ticket für den Film schon wieder Belfort gekauft hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.01.2014)

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