Migration: Leitfaden gegen Sozialpopulismus

(c) REUTERS (BOGDAN CRISTEL)
  • Drucken

Die EU fasst in einem Handbuch Kriterien für Zahlung von Sozialleistungen an EU-Ausländer zusammen. Adressat sind Kritiker der Personenfreizügigkeit – in London und anderswo.

Brüssel. In dem seit Monaten schwelenden Zwist um die Migration von EU-Bürgern setzt die EU-Kommission auf Deeskalation. Am Montag veröffentlichte die Brüsseler Behörde ein Handbuch zum Thema Sozialleistungen für EU-Ausländer. Auf 52 Seiten wird darin erläutert, nach welchen Kriterien nationale Behörden über die Ansprüche von Migranten zu befinden und die relevanten EU-Gesetzestexte zu interpretieren haben.

Das vordergründige Motiv des für Sozialfragen zuständigen Kommissars László Andor, der den Leitfaden am Montag präsentierte, ist Aufklärung. Doch die Initiative hat auch einen politischen Hintergrund: Die Kommission will jenen Kritikern im Westen der Union, die mit Verweis auf angeblichen „Sozialtourismus“ aus dem Osten die Einschränkung der Niederlassungsfreiheit fordern, den Wind aus den Segeln nehmen – und „emotional aufgeladene und fehlgeleitete Diskussionen“ entschärfen, wie Andor gestern formulierte.

Der Sozialkommissar spielt damit auf Großbritannien an, wo die Regierung von Premier David Cameron im Vorfeld der in vier Monaten stattfindenden Europawahl einen populistischen Abwehrkampf gegen die UK Independence Party führt und gegen eine befürchtete Völkerwanderung aus Rumänien und Bulgarien mobilmacht. Die Briten waren auch Mitinitiatoren eines Briefes an die EU-Kommission, den die Innenminister Großbritanniens, Deutschlands, Österreichs und der Niederlande im Frühjahr 2013 nach Brüssel geschickt haben – mit der Forderung, die Kommission möge etwas gegen die Zuwanderung von beschäftigungslosen Rumänen und Bulgaren in ihre Sozialsysteme unternehmen. Zahlen über das Ausmaß des Sozialmissbrauchs blieben die Unterzeichner allerdings bis heute schuldig. Aus Wien hieß es dazu lediglich, man habe den Brief aus Solidarität unterschrieben.

Die Kommission bringt ihrerseits drei Gegenargumente ins Spiel. Erstens: Die Niederlassungsfreiheit gehört zum Fundament der EU und ist somit sakrosankt. Zweitens: Migration bringt mehr Vor- als Nachteile – die Neuankömmlinge zahlen mehr in die Sozialsysteme der Gastländer ein, als sie erhalten. Und drittens: Die vorhandenen Regeln reichen vollkommen aus, um Missbrauch vorzubeugen.

Genau darum geht es in dem nun vorgelegten Leitfaden, der die bestehende Gesetzeslage zusammenfasst. Anhand zahlreicher Beispiele wird darin der Unterschied zwischen „gewöhnlichem“ und „vorübergehendem“ Aufenthalt erklärt. Zur Erinnerung: Nur wer gewöhnlich niedergelassen ist, hat nach EU-Recht Anspruch auf Sozialleistungen im Gastland. Eines der Kriterien dafür ist die Erwerbstätigkeit – wobei der Leitfaden viel Platz für Fallbeispiele einräumt, in denen es um in mehreren Mitgliedsländern erwerbstätige EU-Bürger geht. Weitere Kriterien sind für Nichterwerbstätige – etwa Studenten oder Pensionisten – relevant: familiäre Bindungen, Kontinuität des Aufenthalts, Wohnsituation, Ausübung einer nicht bezahlten Tätigkeit oder der steuerliche Wohnsitz. Sozialleistungen für arbeitslose EU-Ausländer sind gemäß Kommission in den ersten drei Monaten der Arbeitslosigkeit obligatorisch – sollte der Betroffene danach immer noch keine Arbeit haben, könne der gewöhnliche Aufenthaltsort neu bewertet werden.

Migration aus Ostdeutschland

Die Personenfreizügigkeit hat aber auch eine positive makroökonomische Nebenwirkung: Gemäß der OECD hat Migration die Auswirkungen der Eurokrise auf die Arbeitsmärkte ihrer krisengeschüttelten Mitglieder gemildert. In einer aktuellen Studie wurde die Entwicklung der Arbeitsmärkte den Migrationsströmen im Zeitraum 2005–2012 gegenübergestellt. Interessantes Detail am Rande: Die stärkste Auswanderung verzeichneten die Autoren nicht etwa in Griechenland oder Spanien, sondern in den ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern – mit positiven Auswirkungen auf die Arbeitslosenquote in Deutschland.

Auf einen Blick

Das EU-Recht unterscheidet zwischen einem „gewöhnlichen“ und einem „vorübergehenden“ Aufenthaltsrecht. Nur wer sich in einem EU-Gastland gewöhnlich aufhält – etwa, weil er dort arbeitet, studiert oder den Ruhestand genießt –, hat Anspruch auf Sozialleistungen. Arbeitslose EU-Ausländer sollen gemäß EU-Kommission drei Monate lang Sozialleistungen erhalten. Sollten sie in dieser Zeit keine Arbeit finden, könne der gewöhnliche Aufenthalt danach neu bewertet werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.01.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Europa

Sozialtourismus: "Keine Emigrationswelle aus Rumänien"

Botschafterin Davidoiu erklärt, dass viele Auswanderungswillige das Land schon verlassen hätten.
Europa

Arbeitsmigration: Barroso gegen "nationalen Chauvinismus"

Der EU-Kommissionspräsident verteidigt im Europaparlament das Grundrecht der Freizügigkeit. Dieses könne "nicht bedeuten, Bürger erster und zweiter Klasse in Eurpa zu haben."

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.