Gewalteskalation: Angst vor einem Bürgerkrieg in der Ukraine

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Nach den Krawallen am Rande der Proteste warnen Beobachter vor einer "Jugoslawisierung": Den Entspannungsversuchen der Konfliktparteien sei nicht zu trauen.

Kiew/Wien. Zehn Jahre nach der prowestlichen Orangen Revolution und im Jahr vier der immer autoritäreren Regentschaft des immer Russland-freundlicheren Präsidenten Viktor Janukowitsch gibt plötzlich die Straßengewalt den Ton in der ukrainischen Politik an. „Die Situation ist dramatisch wie noch nie“, sagt ein EU-Diplomat zur „Presse“. Mehr als hundert Menschen sind bei Krawallen am Sonntag verletzt worden.

Zwar hat sich Janukowitsch am gestrigen Montag mit dem Boxweltmeister und prowestlichen Oppositionsführer Vitali Klitschko, der vorzeitige Neuwahlen verlangt, getroffen und auf die Einsetzung einer gemeinsamen Kommission geeinigt, um die Krise beizulegen. Und aus dem Premierminister-Büro verlautete, dass die Verhängung des Ausnahmezustandes „nicht geplant“ sei. Aber Beobachter trauen den Entspannungsversuchen nicht, zumal sich die Zusammenstöße am gestrigen Nachmittag fortsetzten.

„Das Treffen wird nicht reichen, um die Spannungen zu lösen“, erklärt Michail Pogrebinski, Ex-Präsidentenberater und jetzt Politologe in Kiew. „Wenigstens ist der Konflikt bislang lokal begrenzt.“ Noch konzentrieren sich die Auseinandersetzungen auf Kiew. Aber einzelne Minister befürchten schon eine „Jugoslawisierung“, wie aus diplomatischen Kreisen zu hören ist. Klitschko selbst nahm das Wort vom „drohenden Bürgerkrieg“ in den Mund. Entsprechend rief er gestern auch die Landsleute nach Kiew , „damit die Ukraine und nicht Janukowitsch gewinnen kann“. Die Staatsführung würde die Truppen aus allen Landesteilen in Kiew zusammenziehen. Und überhaupt habe sie es zu verantworten, dass sich die Situation so entwickelt habe. Die Frage der Schuld hängt vom Zeitpunkt ab, den man in Betracht zieht. Geht es um die Gewalteskalation vom Sonntag, so ging diese von der radikal gesinnten Gruppe des rechten Sektors aus, wie diese auch einräumte. Die Gruppe, die zuletzt stark angewachsen ist und die im russischsprachigen sozialen Netzwerk VKontakte 20.000 Anhänger zählt, vereinigt unterschiedliche extremistische Gruppen, darunter radikale Fußballfans, unter ihrem Dach. Aggressiv gestimmt attackieren sie Spezialeinheiten und positionieren sich sowohl gegen das Regime als auch gegen eine EU-Integration und eine Zollunion mit Russland.

Gesetze gegen Andersdenkende

Die Gruppe ist insofern auffällig, als sie sich auch der von Klitschko und zwei weiteren Personen, darunter dem westukrainischen Nationalistenführer Oleh Tjahnybok, befehligten Opposition nicht unterwirft. Im Gegenteil, sie hat sogar Klitschko tätlich attackiert. In gewissem Ausmaß wird sie von einer enervierten Bevölkerung geduldet. Dass sie vermummt auftritt, wird als Reaktion auf die in der Vorwoche erlassenen Gesetze gegen Andersdenkende gedeutet.

In jedem Fall war der Gesetzesbeschluss der Startschuss für eine neue Konfrontation der Opposition mit dem Regime. Die Gesetze werden von Menschenrechtlern als schwerster Rückschritt im Land seit vielen Jahren gedeutet. Demonstrationsrecht und Internetnutzung werden beschnitten, Verleumdung steht erstmals seit 2001 wieder unter Strafe. Unbotmäßige Parlamentarier können leichter zu Fall gebracht werden, die Möglichkeiten zur Kontrolle von Wahlergebnissen werden eingeschränkt. Die Blockade von Verwaltungsgebäuden wird mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet. Janukowitsch hat damit Demonstrationen sichtlich vorbeugen wollen und inhaltlich Anleihen in Russland genommen, wie er das seit Jahren praktiziert.

Allerdings hat er das Gesetz noch nicht medial publiziert, weshalb es nicht in Kraft ist. Was ihn zögern lässt, ist nicht klar. In jedem Fall herrscht auch innerhalb des Establishments keine Einigkeit, andernfalls wären nicht vorige Woche Janukowitschs Administrationsleiter Sergej Lewotschkin und Teile seiner Mannschaft entlassen worden.

Gewisse Überwerfungen im Establishment und totale Konfrontation mit der Opposition hatten schon im November begonnen, als Janukowitsch das längst ausverhandelte Assoziierungsabkommen mit der EU platzen ließ und den milliardenschweren Verlockungen aus Russland erlag. Bald kehrte wieder Ruhe ein. Offenbar eine Ruhe vor dem Sturm, der seit Sonntag wütet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.01.2014)

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