„Sindelar, er spielte Fußball wie kein Zweiter“

ARCHIVBILD MATHIAS SINDELAR (1938)
ARCHIVBILD MATHIAS SINDELAR (1938)APA
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Am 23. Januar 1939 wurde Matthias Sindelar tot in seiner Wohnung aufgefunden. Ob es ein Mord oder Unfall war, blieb bis dato ungeklärt – doch Spiel und Eleganz sowie der Mythos des „Papierenen“ sind in Österreich unbestritten.

Es war am 7. Januar 1929, auf der Zugstrecke zwischen Nürnberg und Wien, kurz hinter Passau. Da brach der österreichische Fußballteamchef, Hugo Meisl, mit einem Donnerwetter das verlegene Schweigen im Abteil. Das „nixnutze Scheiberlspiel“, also kurze, trickreiche Kombinationen, tobte der Trainer, sei auf schneebedecktem Boden schuld am 0:5-Debakel gegen eine süddeutsche Auswahl gewesen. Dann bot ihm sein Star, Matthias Sindelar, tatsächlich die Stirn und entgegnete: „Wissen S', Herr Hugo, warum mia ned g'wonnen haben? Mia hätt'n no mehr ,scheiberln‘ müssen.“

Im Mittelpunkt des berühmten „Scheiberlspiels“ standen die Kunst der Ballführung, die spieltechnische Leichtigkeit und das Täuschen der Gegner. Und wie kein Zweiter verkörperte der am 10.Februar 1903 als Sohn eines Maurers geborene Matthias Sindelar diese Spielweise. Doch seine Respektlosigkeit gegenüber Hugo Meisl bezahlte der König des „Scheiberlns“ mit der Verbannung aus dem Team. Es dauerte über zwei Jahre, ehe Sindelar am 16.Mai 1931 in Wien gegen Schottland wieder in den österreichischen Farben auflaufen durfte.

Kurz vor Spielbeginn warnte ihn Meisl unmissverständlich: „Ned ins Dribbeln kommen, Sindelar, wehe, Sie tun wieder Ballett tanzen, des können S' in der Oper machen, aber ned bei mir.“ Der Mittelstürmer von Austria Wien tat wie ihm geheißen – mit einer „ballettfreien“ Glanzleistung führte er Österreich zum 5:0-Sieg über Schottland, das damals zur Spitze in Europa zählte.

Friedrich Torberg schwärmte

Der „Papierene“, wie Sindelar wegen seiner schmächtigen Figur genannt wurde, begeisterte sein Publikum durch Geist und Gefühl. Ins Schwärmen geriet auch der Schriftsteller Friedrich Torberg: „Sindelar verfügte über einen so unglaublichen Variations- und Einfallsreichtum, dass man tatsächlich niemals wissen konnte, welche Spielanlage von ihm zu erwarten war. Er hatte kein System, geschweige denn eine Schablone. Er hatte – man wird diesen Ausdruck gestatten müssen– Genie.“ Der Autor und Theaterkritiker Hans Weigel fügte hinzu: „Er war ein Wunder, ein Künstler, ein Phänomen. Nie wurde Sport anmutiger, geistreicher, überlegener und entmaterialisierter betrieben.“ Und der Wiener Dokumentarfilmer Georg Stefan Troller erinnerte sich: „Obwohl Sindelar Mittelstürmer spielte, war er überall auf dem Platz zu finden. Er war ein großartiger Jongleur, der mit dem Ball einfach alles konnte.“

Traumtore – mit Herz

Matthias Sindelar entwickelte das Fußballspiel zur Ballästhetik, zur absoluten, hohen Kunst. Geradezu legendär ist der Treffer, den der „Papierene“ 1935 gegen Slavia Prag erzielt hat. Da hatte der Ausnahmekönner die gesamte Abwehr, einschließlich des Torwarts, längst ausgespielt. Doch es war ihm zu banal, den Ball einfach nur ins leere Tor zu schießen. Stattdessen wartete er, bis ein gegnerischer Abwehrspieler angerannt kam, trickste diesen noch einmal aus und beförderte den Ball erst dann über die Linie.

Mit der Wiener Austria gewann Sindelar 1933 und 1936 den Mitropacup (Mitteleuropacup). Obwohl er sensationelle Angebote von englischen Profiklubs erhielt, unter anderem eines über 25.000 Pfund, blieb er seinem Verein zeit seines Lebens treu. Er begründete die Entscheidung damit, dass das britische Weltreich ohnehin über genügend Klassespieler verfüge und es deshalb auf einen mehr oder weniger auch nicht mehr ankomme. Ferner führte er das „Wunderteam“ in der Zeit von 1931 bis 1933 zu grandiosen Erfolgen. So demütigte Österreich die deutsche Elf gleich zweimal: 6:0 in Berlin und 5:0 in Wien.

In sämtlichen Erinnerungen von Freunden und Weggefährten wird Sindelar als überaus sensibler Mensch beschrieben. Ebenso werden seine menschlichen Eigenschaften hervorgehoben. Nie habe er ein absichtliches Foul begangen, nie an jüngeren und unerfahreneren Mitspielern Kritik geübt. Ganze Scharen von Arbeitslosenkindern versorgte er mit Freikarten für die sonntäglichen Spiele. „Er war ein richtig goldiger Kerl“, meinte Pepi Stroh, ein langjähriger Sturmpartner Sindelars. „Er ist ein Arbeiterkind gewesen, und ist eines geblieben. Trotz seiner Größe im Fußball war er immer der bescheidene Matthias Sindelar.“

Doch zuweilen war er nicht nur bescheiden, sondern auch scheu. Nach einem Spiel in Schweden sprach ihn bei einem Empfang der schwedische König an, aber Sindelar schwieg beharrlich. Erst auf die Frage, wie es ihm denn in Schweden gefalle, brachte er endlich ein kurzes „Ja“ heraus. Als der König den Raum verlassen hatte, seufzte er: „Oba dass i' deshalb gleich a Red' halten hob müssen.“

Überdies bewies der Ästhet aus Favoriten im März 1938 Charakterstärke. Nach dem Anschluss an das Deutsche Reich wurde Austrias Präsident, der Jude Michl Schwarz, von den Nazis seines Amtes enthoben. Der neue Vorstand verbat den Spielern, Schwarz zu grüßen. Demonstrativ rief ihm Sindelar in aller Öffentlichkeit zu: „Der neiche Vereinsführer hat uns verboten, dass ma Ihna griaß'n. I' wer Ihna oba immer griaß'n, Herr Doktor!“ Auch weigerte er sich, für die „großdeutsche Mannschaft“ zu spielen – Sindelar lehnte die Einladung zur Fußballweltmeisterschaft 1938 in Frankreich kategorisch ab.

Das tragische Ende des Genies

Aber selbst auf den sonst so untadeligen Sindelar fiel ein dunkler Schatten. Nach der Abschaffung des Profifußballs durch die Nationalsozialisten erwarb er im August 1938 für 20.000Reichsmark ein „arisiertes“ Kaffeehaus in Favoriten. Der jüdische Voreigentümer, Leopold Simon Drill, starb später im KZ Theresienstadt.

Das Leben des Matthias Sindelar fand ein tragisches Ende: Wenige Tage vor seinem 36.Geburtstag, am 23.Januar 1939, wurde er zusammen mit seiner Freundin tot im Bett aufgefunden. Laut Obduktionsbericht trat der Tod infolge einer Kohlenmonoxidvergiftung ein. Die Frage, ob Mord oder Selbstmord, Doppelselbstmord oder Unglücksfall, blieb ungeklärt.

15.000 Menschen begleiteten den „Papierenen“ auf seinem letzten Weg zum Zentralfriedhof. Und Friedrich Torberg dichtete: „Er spielte Fußball wie kein Zweiter, er stak voll Witz und Fantasie. Er spielte lässig, leicht und heiter, er spielte stets, er kämpfte nie.“

AUF EINEN BLICK

Matthias Sindelar (*10. Februar 1903 in Kozlau) war Fußballer. Er spielte bei Austria und trumpfte als Mittelstürmer im „Wunderteam“ auf.
Sein rätselhafter Tod
am 23. Jänner 1939 ist bis heute ungeklärt.

Friedrich Torberg, „Auf den Tod eines Fußballspielers“: „Er war ein Kind aus Favoriten und hieß Matthias Sindelar. Er stand auf grünem Platz inmitten, weil er ein Mittelstürmer war. Er spielte Fußball, und er wusste vom Leben außerdem nicht viel. Er lebte, weil er leben musste

vom Fußballspiel fürs Fußballspiel.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.01.2014)

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