Im Kältefieber

Gefangen genommene Schutzbundangehörige
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Vor 80 Jahren: der Schutzbundaufstand im Februar 1934. Eine Sichtung von Augenzeugenberichten und literarischen Darstellungen. Voller Überraschungen – und unverzichtbar, weil die Nachfolgepartei der damaligen Sozialdemokratie ihr Erbe abgestoßen hat, in einem jahrzehntelangen Prozess politischer Entmündigung.

Dem Historiker Hans Hautmann zufolge nimmt der Februaraufstand 1934 in der Geschichte der Klassenkämpfe einen besonderen Platz deshalb ein, weil er in der denkbar schärfsten Form, als Bürgerkrieg, ausgetragen wurde. „Und das ausgerechnet bei uns, in einem Land, das das Image hat, dass sich hier die politischen Auseinandersetzungen grundsätzlich in friedlichen, auf Kompromiss ausgerichteten, konsensgeprägten, sozialpartnerschaftlichen, gemütlichen Formen abspielen.“

Es gibt mehrere Gründe, die einen veranlassen, Geschichten und Berichte zu diesem einschneidenden Ereignis der österreichischen Zeitgeschichte zu sichten. Den ersten, dass es 80 Jahre zurückliegt – so lange, wie nach Ansicht von Erinnerungstheoretikern das kommunikative Gedächtnis andauert. Das also, was innerhalb einer Familie oder Sippe mündlich weitergegeben wird, bis es mit dem Tod der ältesten Generation erlöscht. Von da, von nun an sind wir auf historische und literarische Quellen angewiesen, um uns die Ereignisse vorzustellen.

Der zweite Grund liegt darin, dass die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Februarkämpfen, nach einem Höhepunkt vor 30 Jahren, in Österreich immer mehr nachgelassen hat – zu Unrecht, wie ich meine. Damals, Anfang der Achtzigerjahre, wollten viele junge Historiker, Künstlerinnen und Intellektuelle an die Erfahrungen der österreichischen Arbeiterbewegung anknüpfen, der sie zu einem guten Teil auch entstammten, um Antworten auf die drängenden Fragen der Gegenwart zu erhalten. Sie begründeten dabei einen neuen, kritischen, Patriotismus; einen, der sich um die Aneignung der nationalen Geschichte jenseits von Verdammung und Verherrlichung bemüht.

Der Umschwung, und damit auch der Bruch mit diesem Vermächtnis, erfolgte 1986, in der Auseinandersetzung um den nachmaligen Präsidenten Kurt Waldheim, der der Beteiligung, zumindest Mitwisserschaft an Naziverbrechen verdächtigt und wegen seiner Äußerung, er habe als Soldat der Deutschen Wehrmacht nur seine Pflicht erfüllt, des Opportunismus geziehen wurde. Im Verlauf der öffentlichen Debatte verfestigte sich unter den Waldheim-Kritikern die Überzeugung, dass dessen Verhalten während der Nazizeit samt der fehlenden Reue danach für eine ganze Generation seiner Landsleute typisch unddie These von Österreichals einem oder dem ersten Opfer der nationalsozialistischen Aggression als kollektive Lebenslüge zu verwerfen sei. Die Folgen dieser Pauschalierung waren und sind desaströs – weil ihre Vertreter damit die rechtsextreme Schutzbehauptung übernahmen, esseien eh alle Österreicher für Hitler gewesen, und daraus den Schluss zogen, es gäbe in der Vergangenheit nichts, das Wert hätte, an das man anschließen, aus dem man Kraft oder Lehren für die Gegenwart ziehen könnte. Durch die solcherart propagierte nationale Selbstaufgabe, den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der FPÖ unter Jörg Haider, den Zerfall des staatssozialistischen Lagers und die Diskreditierung revolutionärer Bestrebungen erschien vielen Schriftstellern und Intellektuellen ein Aufgehen des Landes in den neoliberalen Wirtschaftsblock der Europäischen Union als ein verlockendes Ziel.

Wie weit sich diese Geschichtsauffassung auch im Wissenschaftsbetrieb verfestigt hat, zeigt eine unlängst veröffentlichte Studie des deutschen Politikwissenschaftlers Cornelius Lenguth über „Waldheim und die Folgen“, in der die Berufung öffentlicher Instanzen auf Widerstand und Freiheitskampf „als Instrument der Verschleierung der österreichischen NS-Vergangenheit mit anderen Mitteln“ gedeutet wird. Das Wort Freiheitskampf stellt Lenguth dabei zwischen Anführungszeichen, das heißt: infrage.

Auch deshalb erscheint es mir wichtig, mit Hilfe der Februarliteratur den trüben Blick auf die jüngere österreichische Geschichte zu schärfen, der nur Täter und Opfer auszumachen glaubt, keinen Widerstand, keinen Klassenkampf, keine Bewegung, keinen Freiheitswillen, lediglich, in einer Rückprojektion der eigenen stumpfbürgerlichen Misere, eine Gesellschaft, die als unveränderbar, ja unheilbar abzuschreiben ist, weswegen jede und jeder beanspruchen darf, sich dem bestehenden Unrecht durch Karrierismus anzupassen. Die Erinnerung an den Februarkampf ist dieserhegemonialen Auffassung lästig. Man muss ihn deshalb kleinmachen, zumKlamauk verschandeln, als belanglose Episode amRande des Weltgeschehensabtun, den Aufständischen abwechselnd Naivität, Brutalität, Ungeschicklichkeit und Verblendung vorwerfen oder ihnen postum unterstellen, dass sie schonvom Keim nazistischer oder stalinistischerGesinnung befallen waren.

Aber der Aufstand war mehr als die Verzweiflungstat einiger Unentwegter, mehr als eine von Anfang an besiegelte Niederlage, nämlich das Aufbäumen sozialistischer Arbeiter (und einiger Intellektueller), die sich nicht nur ihrer christlich-sozialen, in den Faschismus abgedrifteten Feinde erwehren mussten, sondern gleichzeitig die ihnen oktroyierte Einstellung zu überwinden hatten, stillzuhalten, abzuwarten, zu kapitulieren,ehe noch der Kampf begonnen hat, so wie es führende Funktionäre ihrer Partei hielten, die, wie der Arzt und Politiker Walter Fischer bei aller Wertschätzung über Otto Bauer urteilt, die Verantwortung für ein unabsehbares Risiko fürchteten und es vorzogen, die Verantwortung für die Niederlage in Kauf zu nehmen. – Österreich war, früher als Spanien, das erste Land, in dem die Demokratie mit Waffengewalt gegen den Faschismus verteidigt wurde. So unerträglich das Wissen auch ist, dass im März 1938 kein Schuss auf die deutschen Okkupanten und ihre österreichischen Gesinnungsfreunde abgefeuert wurde, so legitim ist die Vorstellung, dass gekämpft worden wäre, wenn die Sieger von 1934 das Angebot aus den Reihen der Besiegten angenommen hätten, sich gegen die Nazis zusammenzuschließen. Weil es ihnen dafür an Größe fehlte, geriet die Annexion 1938 zur Vollstreckung des Unheils der Jahre zuvor.

„Niemand will jenen glauben, für die der Februar 1934 einen härteren Einschnitt bedeutet hat als der Anschluss“, schreibt Hilde Spiel in ihren Erinnerungen. „Als nach jahrelangen Gefechten in Spanien Madrid fiel, wurde in einer Gruppe von Londoner Exilanten einer Frau der Vorwurf gemacht, dass sie keine Tränen fände. Sie sagte: ,Ich habe schon bei Barcelona geweint.‘ Wir weinten in jenem Februar. Was vier Jahre später geschah, war entsetzlich, aber vorhersehbar gewesen für alle, die ihre Augen nicht davor verschließen wollten.“ Auch deshalb sind die literarischen Darstellungen des Februaraufstands unverzichtbar: weil sie sich einem Ereignis widmen, durch das, wäre es anders verlaufen, die Geschichte einen günstigeren Verlauf genommen hätte. Weil in ihr Menschen vorkommen, die sich erhoben, als es geboten war, sich zu erheben.

Zwingend erscheint mir die Beschäftigung mit der Februarliteratur auch deshalb, weil die Nachfolgepartei der damaligen Sozialdemokratie ihr Erbe abgestoßen hat – nicht jäh, sondern in einem jahrzehntelangen Prozess politischer Entmündigung. Am 1. März 2012 trat das Gesetz zur Rehabilitierung der Schutzbündler und anderer Verfolgter des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes in Kraft – durch eine überfällige, wenngleich nur symbolische Initiative, die bezeichnenderweise nicht von Parlamentariern der SPÖ, sondern von zwei Abgeordneten der Grünen, Albert Steinhauser und Harald Walser, gestartet worden war. Aus diesem Anlass hat der Historiker Florian Wenninger darauf verwiesen, dass die Beschäftigung mit demokratischen Traditionen nicht traditionspflegerischer, sondern grundsätzlicher Natur sei. „Sie berühren elementare Fragen der Gegenwart: Wie weit darf und soll Demokratie gehen? Wie weit dürfen persönliche Rechte und Freiheiten zum vermeintlichen oder tatsächlichen Wohl des Staatsganzen eingeschränkt werden? Und: Ab wann ist Widerstand legitim?“ Wenninger zitiert seinen britischen Kollegen E.P. Thompson, demzufolge die Geschichte, „bei allem abgenützten Pathos des Begriffs“, Menschen und Taten von Würde und von Ehre kenne. Eine wichtige Aufgabe der Geschichtswissenschaft – und der Literatur, meine ich – bestehe darin, solche Geschichten zu dokumentieren und weiterzugeben. Künftige Generationen könnten dann aus einem Fundus menschlicher Verhaltensmöglichkeiten schöpfen, der ihnen Orientierung für ihr eigenes Handeln bieten würde – und Hoffnung.

Florian Wenninger: „Der Schutzbundaufstand ist zweifellos eine Geschichte tiefer Erschütterung, maßloser Enttäuschung, unbändiger Wut. Aber er ist mehr als das. Er gehört zu einer langen Kette kleiner und großer Rebellionen in der österreichischen Geschichte, die im öffentlichen Bewusstsein kaum vorhanden sind. Diese Akte des Aufbegehrens strafen alle Versuche Lügen, das verbreitete Duckmäusertum mit dem Fehlen einer widerständigen Tradition in unserem Land zu erklären und damit zu ,vernatürlichen‘.“

Das Verlangen nach einer Literatur, die dieser Tradition verpflichtet ist, wird heute ebenso belächelt wie das Bemühen, sich ihrer in oppositionellen, antikapitalistischen Parteien und Gruppen zu versichern. Lässt man sich davon nicht beirren, dann ist es wohl lohnend, den Februar 1934 und seine literarischen Darstellungen im Spannungsfeld von Fakten und Fiktionen zu erforschen. Man macht Entdeckungen, erlebt Überraschungen, findet Verbündete: Zeitgenossen. Und vielleicht wird der eine oder die andere der vorherrschenden Art von Literaturbetrachtung überdrüssig – jener, die eine Fetischisierung des Begriffs Qualität betreibt (die offenbar losgelöst von den gesellschaftlichen Umständen wie der Heilige Geist über uns schwebt), parteiliche Literatur bestenfalls als „gut gemeint“ abqualifiziert und sich im Übrigen darum kümmert, ob ein literarisches Werk, wie ein Bügeleisen, ein Haarfön oder ein Staubsauger, „funktioniert“. Tut es das nicht, darf es getrost entsorgt werden.

Welche Erfahrungen lassen sich aus der Lektüre der oftmals schwer zugänglichen, in Prager und Moskauer Exilzeitschriften sowie in kleinen oder verfemten Verlagen publizierten Romane, Erzählungen und Augenzeugenberichte gewinnen? Erstens, wie recht Karl-Markus Gauß hatte, als er vor 30 Jahren in einem Aufsatz über die Februarliteratur feststellte, dass für die „große österreichische Literatur“ des 20. Jahrhunderts, die etablierte, kanonisierte, der Bürgerkrieg kein Thema gewesen sei. Er ist es, nebenbei gesagt, auch für die heutzutage für groß gehaltene nicht. Man trifft nur selten auf Autorinnen, Autoren, deren Werke in Buchhandlungen aufliegen oder in germanistischen Seminaren behandelt werden. Die Bekanntesten unter ihnen gelten als bloße Außenseiter (Jura Soyfer, Veza Canetti, Michael Guttenbrunner, Reinhard Federmann) oder werden, wie JeanAméry, Ulrich Becher und Robert Neumann, alle zehn Jahre aufs Neue entdeckt – und bald wieder vergessen.

Zweitens, wie recht auch Ulrich Weinzierlhatte, als er, ebenfalls 1984, im Nachwort zu seiner Anthologie „Februar 1934. Schriftsteller erzählen“ darauf hinwies, dass selbst konservative, ja reaktionäre Schriftsteller in ihren Romanen und Erinnerungen keine oder nur geringe Sympathien für die austrofaschistische Galgendiktatur aufgebracht haben. Für den Österreichischen Bürgerkrieg gilt, was der spanische Autor Andrés Trapiello zum Spanischen angemerkt hat: dass die Rechte zwar den Krieg gewonnen, aber die Literatur verloren habe. Nur dass Letztere nicht in das öffentliche Bewusstsein gedrungen ist.

Aus der Sichtung des Materials ergibt sichaußerdem, dass der Februaraufstand viel häufiger und eingehender von kommunistischer als von sozialdemokratischer Seite behandelt wurde. Literarisch gesehen gehört er demnach zum Vermächtnis der österreichischen und anderer kommunistischer Parteien. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass zahlreiche Autoren sich später von Praxis und Ideologie ihrer Parteien abgewandt haben – zum Beispiel Walter Fischer, Kurt Kläber, Gerda Lerner, Josef Toch –oder dem Terror unter und nach Stalin zum Opfer gefallen sind, wie Franz Leschanz, der 1938 im sowjetischen Exil hingerichtet wurde, und Tibor Déry, der nach dem Ungarnaufstand 1956 drei Jahre lang eingesperrt war.

Unhaltbar erscheint mir nach der Lektüre so vieler Texte die Meinung, dass die sozialdemokratisch inspirierte Februarliteratur vom Durst nach Rache und die kommunistische vom Vorwurf des Verrats der sozialistischen Führer durchdrungen sei. Diese Motive finden sich zwar häufig in den unmittelbar nach den Kämpfen entstandenen Gedichten, treten in Erzählungen und Romanen jedoch kaum in Erscheinung. Verblüffend oft stehen Frauen im Zentrum der Prosastücke (auch der Frauenanteil unter den Autoren ist hoch), hingegen ist es angesichts derKlassenzugehörigkeit derSchutzbundkämpfer nicht verwunderlich,dass sich die meisten Geschichten dem Schicksal von Arbeitern widmen, von Arbeitslosen, Bedürftigen, Bewohnern zerschossener Gemeindebauten.

Wahrscheinlich sind solche literarischen Arbeiten gerade deshalb vergessen – oder erst gar nicht zur Kenntnis genommen worden: weil sie von denen handeln, die an den Kämpfen beteiligt und von diesen unmittelbar betroffen waren. Viel fragwürdiger wirken dagegen einige ambitioniert geschriebene Romane, deren Verfasser – Rudolf Brunngraber, Fritz Habeck, Siegfried Freiberg, Manès Sperber – die Realität als Kulisse für eine Fabel verwenden, die jeder Wahrscheinlichkeit entbehrt: Ein Konservativer, aber dem Extremismus abhold, nicht unbemittelt oder in der Wirtschaftskrise als Unternehmer gescheitert, manchmal adeliger Herkunft, oft Reserveoffizier, gerät durch Zufall, Liebe oder Blutsbande zwischen die Fronten und kommt beim Versuch, zwischen den Bürgerkriegsparteien zu vermitteln oder jemanden zu retten, tragisch ums Leben. Das ist Kolportage, nicht weil es schlecht geschrieben wäre (es liest sich spannend und wirkt authentisch), sondern weil es unwahr ist. Glaubhaft in vielen Details, unglaubwürdig im Ganzen.

Ein Gegenbeispiel, der knappe Bericht über den Nettingsdorfer Kriegsinvaliden Georg Buttinger, der sich am 12. Februar in seiner Wohnung verschanzt und allein der Übermacht trotzt, bis die Gendarmerie am Morgen darauf das Haus in Brand steckt. Buttinger entleibt sich in den Flammen. Das erinnert an eine Heldenlegende, nur dass sie nicht die Identifikation des Lesers sucht, ist aber in allen Einzelheiten beglaubigt. Sowohl der anonyme mündliche Chronist – ein Schutzbundemigrant in Moskau – als auch sein Redakteur Hans E. Goldschmidt haben es unterlassen, der Wirklichkeit eine neue, falsche überzustülpen.

Noch ein Gegenbeispiel: Franz Höllerings weithin unbekannter Roman „Die Verteidiger“, für mich ein Glücksfall der österreichischen Literatur. Die Inhaltsangabe arg verkürzt, könnte man sagen, es geht um eine junge Frau und zwei Männer, die sie begehren. Der eine steht im bürgerlichen, der andere im Lager der Arbeiter. Letzterer kommt bei den Kämpfen ums Leben. Der Überlebende bekommt die Geliebte dennoch nicht. Also Kolportage wie bei den oben Genannten? Nein, weil in Höllerings Roman das Verhalten und Empfinden der Protagonisten aus den Verhältnissen erwächst. Diese gewinnen durch sie an Schärfe.

Auswählen, was einem aufgrund der historischen und politischen Kenntnisse, und des Hausverstands, plausibel erscheint (und trotzdem überrascht). Dazu die Lust, Unbekanntes zutage zu fördern. Zum Beispiel Romanauszüge von Martha Florian, Margarete Petrides, dem gerade erwähnten Franz Höllering: allesamt in den späten Vierzigerjahren erschienen, in denen außer Schuttwegräumen und Vergessen angeblich nichts los war. Eine Erzählung (von insgesamt fünf) des Oberösterreichers Franz Kain, über das Begräbnis, 1956, des Heimwehrführers Ernst Rüdiger Starhemberg. Lajos Bartasunter dem PseudonymErich Barlud in Moskauveröffentlichtes Romanfragment, in dem sich die widerstreitenden Gefühle der von den Kämpfern isolierten Angehörigen äußern: Angst, Erwartung, Ungeduld, Kleinmut. Als Kontrast dazu, bei Gerda Lerner alias Margarete Rainer, die autobiografisch grundierte Darstellung eines Familientreffens: Bourgeoisie, die noch im Grollen der Kanonen daran denkt, sich mit den Siegern zu arrangieren.

Ferner der Wille, den Bürgerkrieg in der Außenansicht und in der Optik von Ausländern zu betrachten. Weil Außenstehende einen frischen, unverbrauchten Blick haben, sehen, was Einheimischen nicht mehr auffällt, oder weil sie, wie die britische Upper-class-Sozialistin Naomi Mitchison, in einem fremden Milieu den Besiegten durch Solidarität und Geldzuwendung zu helfen versuchen und dabei erkennen, wie sehr solidarisches Handeln auch sie selbst, die Handelnden, bereichert. Weil einige der bedeutendsten europäischen Schriftsteller – Tibor Déry, Miroslav Krleža, Anna Seghers, Prežihov Voranc – über den Februaraufstand geschrieben haben, Ilja Ehrenburg fast zeitgleich zu den Geschehnissen eine zornige, dabei schneidend kalte Analyse der Niederlage geliefert hat, mit einer großen historischen Geste, die den Aufstand der russischen Dekabristen, dieser adeligen Revolutionäre gegen die Zarenherrschaft, einschließt. Weil die Erhebung der Schutzbündler, wie bei Willi Bredel nachzulesen, den Häftlingen in einem deutschen KZ zwei, drei Tage lang Hoffnung und Lebensmut gegeben hat. Dérys Erzählung, zwischen Klammern seinem monumentalen Roman „Der unvollendete Satz“ einverleibt, handelt von der jungen Kommunistin Evi Krausz, die just am 12. Februar aus Budapest nach Wien kommt, um hier einen Tanzkurs zu machen, und sich nach langem vergeblichen Bemühen, zu den kämpfenden Schutzbündlern Verbindung aufzunehmen, in den Karl-Marx-Hof schwindelt, den symbolträchtigen Gemeindebau des Roten Wien. Dort, mitten in den Kampfhandlungen, nimmt sie überscharf die kleinen alltäglichen Dinge wahr, die inmitten von Tod und Trümmern weiter bestehen.

Schwer, alle Entdeckungen aufzuzählen. Vier will ich noch nennen: Alfredo Bauers Erzählung „Ausbruch“, in der sich ein obrigkeitsgläubiger Gymnasiallehrer zu seinem aufrührerischen, weil gerechtigkeitsgläubigen Sohn bekennt; ein Feuilleton Elisabeth Freundlichs über den Messerstecher Nepomuk Leberzipf, der sich im Gefängnis zu „Meines Vaters Hüter“ aufschwingt; Friedl Hofbauers innige Kindheitsgeschichte „Der Engel hinter dem Immergrün“, welcher sich als flüchtiger Februarkämpfer entpuppt; Ernst Fabris Bericht über das kurze Leben des Jungsozialisten Josef Gerl. Gerl hatte am 20. Juli 1934 einen Sprengstoffanschlag auf eine Signalanlage verübt und am Morgen danach, bei der drohenden Festnahme, einen Polizisten angeschossen. Nach schweren Folterungen wurde er wegen des Anschlags (Sachschaden: 25 Schilling) zum Tod durch den Galgen verurteilt. Die Vollstreckung fand am 24. Juli statt – einen Tag vor der Ermordung des österreichischen Kanzlers durch Naziputschisten. Mit Gerls Sterben, nicht mit dem Dollfuß', endet der Februar, dieser kaltfiebrige Monat „im Schatten von Galgen und unter Kanonendonner“, wie der kroatische Schriftsteller Krleža geschrieben hat, mein erbitterter Gewährsmann. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2014)

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