Türkei: „Zinsputsch“ gegen die Regierung Erdoğan

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Die türkische Zentralbank verdoppelte gegen den Willen von Premier Erdoğan die Leitzinsen, um die Talfahrt der Lira zu stoppen.

Istanbul. Die türkische Zentralbank hat sich über Warnungen der Erdoğan-Regierung hinweggesetzt und die Leitzinsen überraschend kräftig von 4,5 auf zehn Prozent erhöht. Der Zinssatz, zu dem Banken einander über Nacht Geld leihen, stieg von 7,75Prozent auf zwölf Prozent.

Die Talfahrt der Lira, die unter anderem durch die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan ausgelöst worden war, soll damit gestoppt werden. Anfängliche Kursgewinne der Lira von bis zu drei Prozent gegenüber dem US-Dollar am Mittwoch flachten im Laufe des Tages wieder ab, weil eine neue Entscheidung der US-Zentralbank zur Reduzierung ihrer Anleihenkäufe erwartet wurde.

Erdem Başçi, der 47-jährige Chef der türkischen Zentralbank, hatte sich trotz eines dramatischen Kursverfalls der Lira in den vergangenen Wochen lange gegen eine Zinserhöhung gewehrt und lag damit ganz auf der Linie Erdoğans – so sehr, dass schon von Regierungsdruck auf die nominell unabhängigen Währungshüter die Rede war. In der Nacht zum Mittwoch entschloss sich Başçi dann aber bei einer Dringlichkeitssitzung der Zentralbank, in die Vollen zu gehen.

Großes Außenhandelsdefizit

Der Lira-Verfall hatte sowohl wirtschaftliche als auch politische Gründe. Wie alle Schwellenländer ist die Türkei von der Entscheidung der US-Zentralbank betroffen, ihr Programm der milliardenschweren Anleihenkäufe herunterzufahren.

Da dadurch die Zinsen in den USA wieder steigen, ziehen viele Anleger ihr Geld aus den Schwellenländern ab, um es in Amerika anzulegen. Hinzu kommen Sorgen um die ökonomische Entwicklung der Türkei, die mit einem großen Außenhandelsdefizit und sinkenden Wachstumsraten zu kämpfen hat.

Doch auch die Politik spielte eine Rolle. Die im Dezember aufgedeckten Korruptionsvorwürfe gegen Erdoğans Regierung und die Reaktion des Ministerpräsidenten, der in den Vorwürfen ein Komplott von Regierungsgegnern sieht, haben viele Investoren verschreckt. Premier Recep Tayyip Erdoğan ließ tausende Polizisten zwangsversetzen und arbeitet an Plänen, die Justiz stärker unter die Kontrolle der Regierung zu stellen.

Die Folge aus alledem war eine allgemeine Verunsicherung, die Börse und Lira auf eine Talfahrt schickte. Başçi und seine Zentralbankkollegen versuchten zunächst, die Lira mit dem Verkauf von geschätzten drei Milliarden Dollar zu stützen. Doch es half nichts. Deshalb setzte Başçi für Dienstagabend die Dringlichkeitssitzung an. Mit der Zinserhöhung will er die steigende Inflation bekämpfen und die Türkei für Anleger wieder attraktiver machen.

Nur wenige Stunden vor der Sitzung betonte Erdoğan noch einmal, er sei gegen jegliche Zinserhöhung. Der Ministerpräsident befürchtet negative Folgen für die Wirtschaft kurz vor wichtigen Wahlen im März, weil höhere Zinsen Investitionen und Konsum bremsen könnten. Doch Başçi signalisierte mit seinem drastischen Zinsschritt, dass er sich nicht als Erfüllungsgehilfe der Regierung versteht. Analysten und Experten bewerteten die Entscheidung überwiegend positiv.

Verschwörungstheoretiker am Werk

Möglicherweise hat sich Başçi damit den Zorn Erdoğans zugezogen. Nach der Zinsentscheidung meldete sich Samil Tayyar, ein Abgeordneter aus Erdoğans Regierungspartei AKP, mit dem Satz zu Wort, die Entscheidung der Zentralbank sei ein „Zinsputsch“ gegen die Regierung.

Nach Darstellung der Regierung läuft innerhalb und außerhalb der Türkei eine groß angelegte Verschwörung mit dem Ziel, Erdoğan zu stürzen. Die Gezi-Proteste des vergangenen Jahres und die Korruptionsermittlungen Istanbuler Staatsanwälte gegen Erdoğans Regierung gehören demnach ebenso dazu wie kritische Medienberichte und angeblich regierungsfeindliche Kräfte in der Wirtschaft.

Premier wittert überall Feinde

Besonnene Köpfe in der Regierung warnen vor Übertreibungen. Finanzminister Mehmet Şimşek sagte am Mittwoch, die Zentralbank habe mit ihrer Zinsentscheidung die Sorgen vieler Anleger beruhigt – das klang ganz anders als bei Erdoğan. Inzwischen hat der Premier so viele angebliche Feinde aufs Korn genommen, dass Beobachter den Überblick verlieren. Rational sei all dies nicht mehr zu erklären, schrieb Murat Yetkin, der Chefredakteur der englischsprachigen Zeitung „Hürriyet Daily News“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2014)

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