Zornige Mittelschicht der Schwellenländer

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Die dank des Booms entstandene neue „Bourgeoisie“ hat korrupten Regierungseliten den Krieg erklärt: Mit Massendemos fordern sie bessere Dienstleistungen.

Jung, dynamisch, mächtig: Als 2001 Jim O' Neill die wachstumsstärksten Volkswirtschaften der Welt (Brasilien, Russland, Indien, China) BRIC taufte, löste er einen Schwellenländerhype aus. Nach den BRIC(S für Südafrika) stürzten sich Investoren auf die MINT (Mexiko, Indonesien, Nigeria, Türkei) und die Next Eleven. Kaum jemand hatte Zweifel daran: Das 21.Jahrhundert würde den Schwellenländern gehören. Und nicht nur wirtschaftlich: Diese Wunderkinder verschafften sich auch auf internationalem Parkett Gehör. Vom Klimaabkommen bis zur UN-Reform – überall mischten die BRICS mit.

Nun herrscht Ernüchterung (siehe S.1). „Die Bric-Staaten befinden sich in einer Midlife-Crisis“, konstatiert US-Starökonom Nouriel Roubini. Diese Malaise spiegelt sich nicht nur in Wirtschaftszahlen wider. Sie zeigt sich auf den Straßen: In Brasilien etwa demonstrierten am Wochenende erneut zehntausende Menschen gegen die „verschwenderische Fußball-WM“ im Sommer. Vor einem halben Jahr hatten eine Million Brasilianer mit ihrem Protest gegen die hohen Kosten des Confederations Cup die Metropolen lahmgelegt. Sie warfen Präsidentin Dilma Rousseff Korruption und Nepotismus bei Vergabe von Bauaufträgen vor. Die Demonstranten forderten zudem funktionierende Gesundheits- und Transportsysteme. Und faire Löhne.

Reichtum ist nicht genug

Für BRIC-Beobachter war das ein Déjà-vu: Ähnliche Szenen hatten sich zuvor in Indien und Russland abgespielt. Massendemos gegen hohe Lebensmittelpreise, niedrige Löhne, Korruption und Misswirtschaft hatten 2011 den indischen Premier Manmohan Singh in die Bredouille gebracht. Ein Jahr später löste die Vergewaltigung einer Studentin eine neue Protestwelle aus – diesmal richtete sich der Zorn gegen die Unfähigkeit (und den Unwillen) der Polizei und Justiz, solche Verbrechen zu bestrafen. Auf die Straße gingen nach der russischen Parlamentswahl vor zwei Jahren auch zehntausende Russen, um gegen das zunehmend rigide und korrupte System Putins zu protestieren. Eine fairere, weniger autoritäre Regierung hatten im Sommer übrigens auch türkische Demonstranten gefordert (siehe S. 3).

Freilich sind die Differenzen zwischen den einzelnen Ländern – und die Antwort ihrer Regierungen auf Kritik – enorm. Trotzdem gibt es bei den Protesten Ähnlichkeiten: Sie werden alle von einer gebildeten, mehr oder weniger wohlhabenden Mittelschicht angeführt. „Geschaffen“ hat diese Bourgeoisie der Wirtschaftsboom. Im letzten Jahrzehnt hat sich laut Goldman Sachs die Anzahl der BRIC-Bürger, die zwischen 6000 und 30.000 Dollar im Jahr verdienen, verdreifacht. Laut Prognose werden bis 2020 1,6Milliarden BRIC-Einwohner in diese Kategorie fallen. Diese Mittelschicht ist fordernd. Ihr genügt Reichtum allein nicht mehr: Sie verlangt Lebensqualität, funktionierende Dienstleistungen, aber auch „Good Governance“ – effiziente und saubere Regierungen.

Das trifft teilweise sogar auf die rasant wachsende chinesische Mittelschicht zu. Noch zählt sie zu einer der wichtigsten Stützen des KP-Regimes – für Stabilität, Bewegungs- und Konsumfreiheit nehmen sie die Einschränkung in Meinungsfreiheit in Kauf. Doch korrupte Kader, verseuchte Luft oder giftige Lebensmittel stoßen beim Stadtbürgertum zunehmend auf Kritik, wird aus Microblogs deutlich. Und auch China hat seine Protest-Hotspots. 2012 sollen 170.000 lokale Kundgebungen stattgefunden haben, die meisten wegen Landenteignung.

„Destabilisierende Unruhen“ drohen

Investoren sind wegen der soziopolitischen Fragilität in den Schwellenländern besorgt. Investmentbank Nomura International warnt in einer Studie vor „destabilisierenden Unruhen mit Auswirkungen auf internationale Märkte“ in elf Staaten, darunter die BRICS, Argentinien und die Türkei. „Der Frust der im letzten Jahrzehnt entstandenen Mittelschicht wegen Korruption und Nepotismus steigt“, heißt es. Bisher wurde die Bevölkerung mit Finanzspritzen besänftigt. Sollten Regierungen zum Sparen gezwungen werden und Arbeitslosigkeit sowie Lebenskosten weiter steigen, drohe die Situation zu kippen. Schwellenländer sind weniger krisenresistent als liberale Demokratien, argumentiert indirekt US-Nobelpreisträger Douglass North: Ziel der in diesen Staaten regierenden „dominanten Koalitionen“ ist es, ihre Privilegien zu schützen (North spricht von „natürlicher Ordnung“). Kontrolle wird über ein Patronagenetzwerk ausgeübt. Stürzt die Elite, entsteht Chaos. In einer „offenen Ordnung“ hingegen garantiert der Staat „Zugangsfreiheit zu Politik und Wirtschaft“ (Demokratie und Marktwirtschaft). Die Eliten sind bereit, „ihre Privilegien in unpersönliche Rechte umzuwandeln“ – also Rechtsstaatlichkeit zuzulassen. Diese Staaten sind bei Krisen stabiler, weil es unabhängige Institutionen gibt.

Volkswirt Roubini sieht indes für Schwellenländer nur einen Weg aus der Krise: mehr Marktöffnung, weniger Staatskapitalismus und „Stärkung politischer und anderer Institutionen“. „Good Governance“ also. Ganz so, wie es sich das Neobürgertum wünscht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2014)

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