Warum Alpennähe reich macht

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Symbolbild AlpenReuters
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In Deutschland galoppiert der Süden dem Norden wirtschaftlich davon, in Italien spiegelt sich das Phänomen. Aber warum? Soziologen bieten eine verblüffende Erklärung an.

Wer in Tutow lebt, kann keine Kameras mehr sehen. Allzu oft sind Fernsehteams in das Dorf in Mecklenburg-Vorpommern gereist. „Wo Deutschland am Ende ist“ regiert die Tristesse: Die Abrissbirne bohrt sich in graue Plattenbauten, die alte Senffabrik bröckelt vor sich hin. Nur das Gasthaus überlebt, hier treffen sich Alkoholiker, Jugendliche ohne Plan und Reporter ohne Scham, angelockt von der Statistik: Turow ist die deutsche Gemeinde mit der höchsten Arbeitslosigkeit. 70 Prozent leben hier von der Stütze.

Schnitt, vom Sozialporno zur Wohlfühl-Doku: nach Eichstätt.

Die schmucke Kleinstadt mit den sauber sanierten Barockgiebeln strotzt nur so von Wohlstand und bürgerlicher Behaglichkeit. Sie liegt ganz oben in der Statistik, ganz unten in Deutschland: im Herzen Bayerns. 1,3 Prozent Arbeitslose in Stadt und Landkreis, das ist de facto Vollbeschäftigung, wie zu Zeiten des Wirtschaftswunders. Viele der 6900 Firmen haben nur eine echte Sorge: genug Fachkräfte zu finden, um weiter expandieren zu können.

Welche Welten trennen die beiden Kommunen? Die Kluft zwischen Ost und West? Sicher, Tutow ist Ex-DDR, Eichstätt alte BRD. Nach über vier Jahrzehnten Kommunismus werden die Ostdeutschen lange brauchen, um beim Lebensstandard aufzuschließen.

Aber nicht diese bekannte Diskrepanz fasziniert und erschreckt deutsche Ökonomen. Es ist vielmehr das generelle Süd-Nord-Gefälle, das es schon vor der Wende gab und das sich nun mit Macht zurückmeldet. Bayern und Baden-Württemberg galoppieren dem Rest der Republik davon. Ob Wachstum, Einkommen, Forschungsausgaben, Patente oder niedrige Schulden: In allen Rankings stehen die südlichen Bundesländer an der Spitze. Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland halten mit, der Norden – mitsamt dem Nordwesten – fällt ab. Der beste Indikator dafür ist der Finanzausgleich: Nur noch Bayern, Baden-Württemberg und Hessen alimentieren alle anderen.

Bauern als Unternehmer.
Betrachtet man den Osten isoliert, wiederholt sich das Bild: Sachsen und Thüringen im Süden sind die Musterschüler. In mancher Hinsicht hängen sie schon den Nordwesten ab. So hat Thüringen eine niedrigere Arbeitslosenquote als Nordrhein-Westfalen. Gute Perspektiven hat auch Sachsen: Dort gibt es laut „Bildungsmonitor“ die besten Schulen. Kein Flächenland hat eine größere Dichte an Hochqualifizierten. Und nirgends ist die öffentliche Pro-Kopf-Verschuldung niedriger.

In Italien ist das Nord-Süd-Phänomen auf den Kopf gestellt: reicher Norden, armer Mezzogiorno. Fast möchte man meinen, räumliche Nähe zu den Alpen sei heute die beste Voraussetzung für eine prosperierende Wirtschaft. Was aber sagt die Wissenschaft?

Soziologen aus Jena geben eine verblüffende Antwort auf die Rätselfrage – und zeigen, dass die Landschaft tatsächlich eine Rolle spielt. Die These der Gruppe um Karl Friedrich Bohler: Das heutige Süd-Nord-Gefälle in Deutschland hat mit Mentalitäten zu tun, die sich durch bäuerliche Besitzstrukturen herausgebildet haben. Im flachen Land im Nordosten (wie auch im Süden Italiens und Spaniens) dominierten früher wenige Gutsherren. Auf ihren oft riesigen, ziemlich autarken Latifundien beschäftigten sie eine Heerschar von Landarbeitern, die von ihnen abhängig blieben und nie lernten, auf eigenen Beinen zu stehen. Das förderte eine Schicksalergebenheit, die sich später in den festen Glauben an die fürsorgliche Macht des Sozialstaates verwandelt hat. Im Nordwesten lief es ähnlich. Dort vererbten Großbauern ihre Höfe an den ältesten Sohn, die weiteren Kinder wurden zu unselbstständigen „Heuerlingen“ degradiert.

Ganz anders weiter im Süden. Im Hügel- und Bergland sind die Acker- und Weideflächen kleinteiliger. Zudem ist Süddeutschland dichter besiedelt. Viele Kleinbauern mussten sich als „Unternehmer“ behaupten. Dazu kam oft die Realteilung: Das Erbe wurde aufgeteilt, für den Einzelnen reichte es bald nicht mehr zum Überleben. Er musste sich etwas überlegen, zum Beispiel ein Handwerk erlernen. „Das schuf einen immanenten Druck hin zum Gewerbe“, erklärt Bohler im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. In den vielen kleinen Städten organisierten die Bürger die Arbeitsteilung.

Vom Hunger zum Erfolg. Österreicher und Schweizer hatten es noch schwerer: „Wenn ich durch ihre steilen Täler fahre, frage ich mich, wovon die Bauern überhaupt gelebt haben.“ Die norddeutschen Gutshöfe waren viel produktiver, und „Hungersnöte wie im Süden gab es dort nicht“. Dazu kamen Hansestädte am Meer, die durch Handel reich wurden. Früher ging es dem Norden also besser als dem Süden.

Daran änderte auch die industrielle Revolution nichts. Landarbeiter fanden körperlich harte Arbeit in den Häfen oder den Bergwerken und Stahlfabriken im Ruhrpott. Immer noch galt: je größer, desto produktiver. Der rohstoffarme Süden blieb im Schatten.

Aber sein Mittelstand spezialisierte sich, sammelte Know-how, war aus der Not heraus innovativ. Seit dem Strukturwandel der Siebzigerjahre schlägt seine Stunde. Eine Wissensgesellschaft braucht kreative Köpfe, die auf eigene Faust ihre Nische auf dem Weltmarkt finden – und bei Rückschlägen nicht auf Hilfe vom Staat vertrauen.

Natürlich lässt sich der Erfolg nicht auf eine Ursache reduzieren. Auch auf dem heiklen Terrain der Mentalität finden sich weitere Faktoren. So gelten seit Max Webers berühmter Theorie über die Rolle der Reformation bei der Entstehung des Kapitalismus die Protestanten als besonders ehrgeizig und unternehmerisch. Spricht das nicht für den Norden? Bohler lässt die Religion als Faktor gelten, hält sie aber für weniger fundamental. Sie habe in protestantischen Gegenden im Süden die Entwicklung beschleunigt – wie in Württemberg, „das war ja pietistisch, also protestantisch hoch drei“.

Und die Österreicher? Ihnen sagen Sozialforscher gern nach, sie seien, lange geprägt durch ein freiheitsfeindliches Kaiserreich, obrigkeitshörig geworden. „Politisch mag da was dran sein“, räumt Bohler ein. „Aber ich frage mich, ob die große Monarchie ihre Untertanen so fürsorglich behandelt hat wie ein Gutsherr. Unser Blick ist: Wie bewältigt man den Alltag? Da geht es nicht um politische Mitbestimmung, sondern darum, dass ich für mein Leben selbst verantwortlich bin – wie ein Bergbauer in Tirol.“ Das Sein bestimmt das Bewusstsein, hätte Marx gesagt. Doch die Forscher aus Jena wollen den Fatalismus in Dörfern wie Tutow nicht fördern. Mentalitätsmuster schleifen sich nur langsam ab, und die DDR-Jahrzehnte wirkten verzögernd. Aber die Menschen machen ihre Geschichte selbst, und je klarer sie sich ihrer Dispositionen werden, desto rascher können sie diese überwinden. Wer in Tutow etwas aus seinem Leben machen will, kann wegziehen. Er kann sogar zu Hause etwas aufbauen – auch wenn es viel schwerer fällt als in Eichstätt.

Süd > Nord:

Wenige Arbeitslose:
1. Bayern
2. Baden-W.
3. Rheinland-Pfalz
(Dezember 2013)

Wirtschaftskraft:
1. Hessen
2. Bayern
3. Baden-W.
(BIP pro Einwohner 2012; ohne Stadtstaaten)

Wenige Schulden:
1. Sachsen
2. Bayern
3. Baden-W.
(öffentliche Schulden pro Kopf; Ende 2012)

Wenig Kriminalität: 1. Bayern
2. Baden-W.
3. Thüringen

Viele Patente:
1. Baden-W.
2. Bayern
3. Hamburg
(Anmeldungen pro Einwohner 2012)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2014)


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