Historiker: "Forschung, nicht Sensationen"

Stefan Karner
Stefan Karner Die Presse
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Historiker Stefan Karner hält überraschende Funde in den Stollen für wahrscheinlich.

Am Montag wird ein neuer Bohrversuch in St. Georgen an der Gusen gestartet. Wie realistisch ist es, dass im Tunnelsystem Beweise für ein Atomprogramm auftauchen?

Stefan Karner: Wenig. Beweise für ein deutsches Atomprogramm finden sich eher in Archiven, weniger durch Bohrungen in verschütteten Stollen. Aber: Man könnte auf Dinge stoßen, die wir aktenmäßig erahnen können. Vermutungen könnten sich erhärten. Keinesfalls sollte man sich nur auf ein deutsches Atomprogramm versteifen. Mit diversen NS-„Geheimwaffen“-Verschwörungstheorien kann ich wenig anfangen. Faktum ist allerdings, dass gerade beim KZ-Außenlager Gusen und dem dazugehörigen Wirtschaftskomplex noch vieles im Dunkeln liegt.

Was kann jetzt schon ausgesagt werden?

Ganz wichtig sind die Forschungen des Berliner Wirtschaftshistorikers Rainer Karlsch. Seit geraumer Zeit arbeiten wir mit ihm zum KZ Gusen. Dabei sind uns viele neue Informationen zugegangen. Schriftliche Quellen, mündliche Informationen, Bohruntersuchungen. Sie alle werden derzeit ausgewertet. Ein Forschungsprojekt ist in Ausarbeitung. Die Aktenlage, etwa zum bekannten Projekt „Bergkristall“, ist dürftig. Dabei hat sich dieser Komplex keineswegs ausschließlich auf die SS-Firma Deutsche Erd- und Steinwerke und auf die Produktion von Messerschmitt-Jagdflugzeugen beschränkt. Ganz bestimmt waren hier auch zahlreiche andere Firmen involviert, etwa Siemens oder die Linzer Hermann-Göring-Werke, die heutige Voest.

Was wurde in den Stollen von St. Georgen an der Gusen noch alles produziert?

Eine ganze Menge. Vielleicht nicht nur produziert, auch erforscht. Aber, wie gesagt, da stehen wir am Anfang der wissenschaftlichen Arbeit. Dabei geht es um präzise, seriöse Forschung, nicht um Sensationen.

Und die neuen Bohrungen?

Sollten diese wirklich Neuigkeiten zutage fördern, würde es mich nicht überraschen.

Gibt es Indizien, die auf ein Nazi-Atomprogramm hindeuten? Und welche?

Ich betone noch einmal: Von einer Atomwaffenproduktion in den Stollen in Gusen kann aus derzeitiger Sicht keine Rede sein. Ich halte es aber für möglich, dass die Stollen auch als ausgelagerter Standort zur Erzeugung von möglichst reinem Uran gedient haben. Unter den in Gusen eingesetzten KZ-Häftlingen gab es eine auffallend hohe Konzentration an Chemikern und Physikern. Auch kann es sein, dass hier Uranerze weiterverarbeitet wurden. Noch sind sehr viele Fragen offen, oft fehlen die Zusammenhänge. Die werden wir finden.

Wo und wie ließen die Nationalsozialisten reines Uran produzieren? Hatte Österreich hier eine spezielle Rolle?

Eine große Uranerzlagerstätte lag im tschechischen Joachimsthal/Jachymov. Hier fand bereits in der NS-Zeit ein Abbau im großen Stil statt. Später „bedienten“ sich hier auch die Sowjets und die Erze dienten als Rohstoff zum Bau der sowjetischen Atombombe. Tausende Menschen mussten zuerst unter den Nazis und später unter tschechisch-sowjetischer Leitung unter unmenschlichen Bedingungen Uranerze abbauen, viele starben qualvoll. Die Nazis ließen das gewonnene Erz aus Joachimsthal in Berlin (Auer AG), in Frankfurt (Degussa) und in den Treibacher Chemischen Werken in Kärnten weiterverarbeiten. Anfangs zu Radium und Uran für Leuchtschilder, Leuchtknöpfe – etwa in Panzern und Flugzeugen – und für Leuchtmunition. Später auch für die NS-Versuche zur Herstellung einer Kettenreaktion, in deren weiterer Folge dann eine Atombombe gebaut werden sollte.

Wie weit war das Dritte Reich bei der Entwicklung einer Atombombe?

Erste Ansätze zu einer Kettenreaktion gab es. Von einer Bombe war man noch weit entfernt. Es gab auch keine Kernwaffenversuche. Ein komplexer Bereich, auf den ich da gar nicht im Detail eingehen kann.

Bisher gab es vor allem Spekulationen – kann es sein, dass Filmemacher Andreas Sulzer hier nur einfach geschickt Werbung für einen seiner Filme macht?

Eines ist klar: Sulzer hat mit Beharrlichkeit ein Forschungsfeld neu aufgerollt, von dem viele gemeint haben, es sei längst restlos erforscht. Dem ist nicht so, wie wir inzwischen sehen. Sulzer hat auch spannendes Material ausgegraben. Jedenfalls wird durch ihn und durch unsere wissenschaftlichen Arbeiten viel mehr Licht in die dunklen Stollen kommen als bisher.

Historie

Ab 1943 mussten Zwangsarbeiter aus dem KZ Mauthausen in St. Georgen an der Gusen Stollen mit dem Codenamen „Bergkristall“ graben. Bis zu 60.000 Menschen wurden gezwungen, hier händisch zu graben, mindestens die Hälfte kam ums Leben.

Bis 1945 wurde „Bergkristall“ zu einer Zentrale der Rüstungsproduktion für Hitlers Armee. In den bombensicheren Stollen wurden Teile der Messerschmidt-Jagdflugzeuge und andere Kriegswaffen produziert.

Nach dem Krieg wurden die Stolleneingänge teilweise gesprengt, später darüber sogar Wohnhäuser errichtet.

Ab 2002 begann die für die Stollen zuständige Bundesimmobiliengesellschaft BIG die Stollen mit Beton zu verfüllen: ein Riesenprojekt, das mehrere Jahre dauerte und rund 14 Mio. Euro verschlang.

Zur Person

Stefan Karner ist Vorstand des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte an der Uni Graz und Leiter des Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung.

bik.ac.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2014)

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