Neuer Blick auf Schale und Strunk

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Nicht nur für kulinarische Querdenker interessant: die Ganzpflanzennutzung. Über Brokkolilocken, Paprika-Popcorn und andere angebliche Abfälle.

Erster Gang: Fischgräten. Gewürztes und zu essbarem Glas frittiertes Skelett vom Babysteinbutt, aber dennoch nichts anderes als Fischgräten. Später: Schuppen von der Rotbarbe als miniaturartig durchscheinende Splitterchips. Wenn in den besten Restaurants der Welt Küchenabfälle serviert werden, steht es jeder Küche frei, mit dem zu experimentieren, was üblicherweise weggeschnitten und entsorgt wird. Und diese Doch-nicht-Abfälle auch in den Mittelpunkt zu rücken – als Solodarsteller. Denn es ist zwar gängige Praxis, für Sude oder Cremesuppen auch Fischkarkassen, Gemüsestrünke und -schalen zu verwerten; den vermeintlichen Küchenmist jedoch als eigenständiges Element eines Gerichts zu präsentieren, ist bisher eher für Avantgardeküchen Thema.


Alles kann wertvoll sein.
Mit „nose to tail“ hat es angefangen, diese Wendung ist mittlerweile omnipräsent: Das ganze Tier wird verwertet, auch die Innereien, die Füße, der Kopf. Nun scheint dieses Konzept erstens immer detaillierter zu werden: Man widmet sich auch Tierkörperteilen wie Hirschohren, Kalbssehnen oder dem Rückenmark vom Thunfisch (vieles war früher laut historischen Kochbüchern völlig normal). Zweitens liest man immer öfter von „root to stalk“: Auch bei Gemüse sollen alle Teile verwendet werden, Wurzeln, Schalen, Strünke. Und dass in Wien bald das zweite Lokal aufsperrt, das mit Brotresten kocht – nach dem Joseph Bistro das Ströck'sche Feierabend –, passt gut in die Zeit.

Was die Mengen betrifft, mag es irrelevant sein, ob in einem Spitzenrestaurant mit 40 Sitzplätzen ein paar Fischgräten, ein paar Paprikakerne mehr oder weniger weggeworfen werden. Den neuen Blick der Hochküche auf Küchenabfälle also als Heilmittel gegen Lebensmittelverschwendung zu sehen, wäre wohl übertrieben. Geht man aber davon aus, dass Avantgardephänomene nicht selten Standard werden, darf man hoffen, dass die Ganzpflanzenverwertung und der Einsatz von angeblichen Abfällen auch in Privatküchen eine noch größere Rolle spielen wird. Vielleicht weniger in Form von frittierten Skeletten vom Babysteinbutt als in Form von Erdäpfelschalen-Knabberzeug.


Einsatzmöglichkeiten. „Die Presse am Sonntag“ wirft mit einem kulinarischen Querdenker einen neuen Blick auf ungeliebte Gemüseabschnitte und lotet Einsatzmöglichkeiten aus. Roman Steger und Simon Siebdrath sind im kleinen Restaurant Speisekammer im achten Wiener Bezirk für die Küche verantwortlich. Steger mehr in der Konzeption – er ist auch für die diversen ambitionierten und ungewöhnlichen Veranstaltungen zuständig –, Siebdrath in der Ausführung. Drei Menüs gibt es, wobei man beim Überraschungsmenü nur die Zutaten erfährt. Aktuell sind das unter anderem Schokolade, Petersilie, Kutteln, Forellenkaviar, Orangen, Leberkäse und rote Bohnen. Gemüsedesserts sind in der Speisekammer ebenso Teil des Kochkonzepts wie ein süßer Kuchen mit Fleischintarsien als Beilage zu Tafelspitz. Essen außerhalb von bekannten Mustern zu denken, das ist Roman Steger ein großes Anliegen.

In der Küche liegen unter anderem Brokkolistrünke bereit, noch ist nicht klar, was damit geschehen soll. Steger und Siebdrath kosten, sind überrascht vom kohlrabiartigen Geschmack. Leicht scharf, kohlig und ganz anders als die gewohnten dunkleren Röschen. Karottentrester soll ebenfalls verarbeitet werden, also das, was beim Entsaften übrig bleibt. Hier liegt auch in Privatküchen ziemlich viel Potenzial brach: beim Entsaften von Roten Rüben, Äpfeln, Sellerie... Der Trester ist nicht so trocken, wie man glauben könnte, die Konsistenz fein und mundzahm, der Karottengeschmack noch deutlich präsent. Steger erzählt von einem Gespräch mit dem befreundeten Caterer Marco Simonis, der mit ihm auch die monatlichen Koch-Doppelconférence in der Speisekammer veranstaltet: Beiden wurde klar, wie viel nutzbare Karotten-, Sellerie- oder Rote-Rüben-Masse verkommt, wenn für eine große Veranstaltung nur der Saft verwendet wird, nicht aber der Presskuchen. Den man trocknen und zu Suppenpulver machen, mit Ricotta, Bröseln, geriebenem Parmesan und Ei zu Knödeln formen oder zur Füllung von Ravioli verwenden kann, aber der auch in frischer Form eine gute Figur macht. Man muss nur kurz nachdenken, einen neuen Blick entwickeln. Roman Steger und Simon Siebdrath würzen also die feinen Karottenraspeln, die im Entsafter übrig bleiben, mit Olivenöl und Zitrone und formen daraus Kügelchen. „Diese kommen zum Gang aus Brokkolistielen und -bröseln, Büffelmozzarella und Stängelpesto.“ Letzteres wurde aus Petersilie und Basilikum vorbereitet. Die Brokkolistiele hobelt Siebdrath mit der Mandoline längs zu hauchdünnen Streifen, legt sie in kaltes Wasser. Steger fragt: „Werden das Locken, glaubst du?“ Und wie als Antwort beginnen die Brokkolistreifen, sich zu kringeln.

Die Paprikakerne sind schon geröstet, und Roman Steger weiß genau, wie er diese einsetzen will: als bittere Würzergänzung zum Skrei auf Paprikakraut. Dazu gibt es Schiffchen aus frittierten Ofenerdäpfelschalen. Ins Paprikakraut rühren Steger und Siebdrath wiederum Karottentrester. Die Paprikakerne schmecken übrigens roh intensiv nach Paprika, nur eben bitterer, im gerösteten Zustand entwickeln sie interessanterweise eine eindeutige Popcornnote.


Soloauftritt. Apropos Popcorn: Maiswasser, also das, was nach dem Abgießen der Körner in einer Maisdose übrig bleibt, will Steger demnächst auch im Rahmen eines Überraschungsmenüs verarbeiten. Es schmeckt hocharomatisch und wird mit dem Bindemittel Xanthan (auch Stärkemehl wäre möglich) zu einer Sauce gerührt. „Das Maiswasser finde ich am interessantesten, wenn es pur bleibt“, sagt Steger. Natürlich könnte man es einfach in eine Suppe kippen. Spannend sind die vermeintlichen Abfälle aber für einen Querdenker, wenn sie einen Soloauftritt bekommen.

Kochbuchjunkie Roman Steger hat ein paar der Ideen zur Ganzpflanzennutzung in einem neuen Buch gefunden, das dieser Tage auf den Markt kommt: „Von der Schale bis zum Kern“ von Bernadette Wörndl. Die kandierten Gurkenschalen daraus – in Läuterzucker eingelegt und zwei Stunden im Rohr getrocknet – finden bei ihm gleich auf Lachsforelle und Gin-Crème-fraîche einen Platz. Beim Pesto aus Karottengrün, das Kochbuchautorin Wörndl vorschlägt, ist Roman Steger hingegen skeptisch: „Die Abfallverwertung muss schon auch geschmacklich Sinn ergeben.“ Einige allzu kosmetische Ideen im Buch kommentiert er ebenfalls kritisch, hat aber doch Feuer gefangen.

In Bernadette Wörndls Buch stieß Steger noch auf ein Chutney aus dem weißen Teil von Wassermelonenschalen, den man stets wegwirft. Als er davon kürzlich einem Gast erzählte, wusste jener zu berichten, dass diese Art der Abfallverarbeitung in Serbien gang und gäbe sei. Was als Mist gilt oder nicht, ist also auch eine Frage der kulinarischen Kultur.

Essvermittler

Roman Steger und Simon Siebdrath kochen im Restaurant Speisekammer, Tigergasse 31, 1080 Wien. Die Ganzpflanzennutzung wird demnächst auch Thema im Rahmen der Überraschungsmenüs sein, bei denen man nur die Zutaten erfährt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2014)

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