Fluch bis ins siebte Glied

Vom brutalen NS-Gruppenführer bis hin zum experimentierenden Hobbybauern: In „Schwarzer Flieder“ setzt Reinhard Kaiser-Mühlecker seine autobiografisch gefärbte Saga einer Familie aus Oberösterreich fort.

Die Geschichte der Familie Goldberger geht weiter, und das ist gut so, denn der Autor dieses generationenübergreifenden Familienromans aus Oberösterreich, Reinhard Kaiser-Mühlecker, wird in seinem Schreiben immer besser. Die sprachlichen Manierismen und der etwas unsichere erzählerische Hintergrund der früheren Arbeiten des 1982 in Kirchdorf an der Krems geborenen Autors sind jetzt verschwunden. Noch in seinem Roman „Magdalenaberg“ (2009) war die Familiengeschichte in einen fernen Hintergrund gerückt. Die Kritik zeigte sich damals schon vom Talent des Autors überzeugt. Niemand aber wusste genau, wohin er mit seinem Schreiben eigentlich wollte.

Der im Jahr 2012 erschienene Roman „Roter Flieder“ machte die Richtung klar. Nicht allein, woher der Autor kommt, sondern auch, wohin sein literarischer Weg ihn geführt hat, ist an diesem Buch deutlich geworden. „Roter Flieder“ ist ein autobiografisch gefärbter Familienroman, der der Geschichte der bäuerlichen Goldberger mehr als 600 Seiten Platz gibt. Spätestens bei solchen Umfängen werden Verlage normalerweise nervös, denn der Absatz bewegt sich ab dieser Grenze unerbittlich nach unten.

Mit dem neuen Buch von Kaiser-Mühl- ecker wird klar, dass die Geschichte, die er erzählen will, mit ihren 600 Seiten noch nicht zu Ende ist. Das soeben erschienene Buch „Schwarzer Flieder“ liefert folgerichtig noch einmal 200 Seiten nach. Die Aufteilung des Stoffes mag nicht allein den Ängsten des Verlags geschuldet sein, vielleicht musste der erste Teil auch seitens des Autors erst einmal abgeschlossen sein, um zum zweiten zu kommen. Nach außen hin vermittelt die gewählte Publikationspolitik aber ein doch eher skrupulöses Bild.

Das ist schade, denn das Werk selbst hat keinerlei Skrupel nötig. Ein ungewöhnlich kraftvoller, dabei aber auch wohltuend zurückhaltender Tonfall zieht vom „Roten“ über den „Schwarzer Flieder“ hinweg. Es ist ein unaufgeregtes Erzählen, das genau weiß, was es will, und an sich und seinem Stoff keinerlei Zweifel hat. „Beinahe alttestamentarisch“, so steht es auf dem Klappentext, sei die Art, in der Kaiser-Mühlecker schreibt. Vielleicht wäre anstatt des religiösen Begriffs mit all seinen falschen Implikationen einfach nur „oberösterreichisch“ das bessere Wort gewesen. Genau so jedenfalls, wie Robert Musil das Oberösterreichische gesehen hat, nämlich in der Art eines Vollkommen-überzeugt-in-der-eigenen-Landschaft-Stehens, erzählt Kaiser-Mühlecker.

Um zu erkunden, mit welchem Geschick der Autor dieses stumme Einverständnis mit sich selbst zur Grundlage eines lakonischen Stils macht und wie er dabei zugleich auch die ganze ihm eingeschriebene Gewalttätigkeit markiert, ist es völlig egal, mit welchem der beiden „Flieder“-Bücher man Kaiser-Mühlecker zu lesen beginnt. Will man die Geschichte der Familie chronologisch haben, fange man mit „Roter Flieder“ an. Dort findet man die Ursprungsszene eingetragen, die auf der Familie wie ein Fluch lastet, der „bis hinein in das siebte Glied“ reicht.

Der alte Ferdinand Goldberger hat es als NS-Gruppenführer im Innviertel mit seiner Brutalität so schlimm getrieben, dass die gesamte Bevölkerung seines Heimatdorfs gegen ihn rebelliert hat. Die Partei bot dem Mann daraufhin (und wir befinden uns zu Beginn der 1940er-Jahre) einen anderen Hof in einer anderen Gegend des Landes an – in der Nähe von Kirchdorf an der Krems am Fuß jenes Magdalenabergs, der das Werk von Kaiser-Mühlecker grundiert.

Aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, bringt der Sohn des alten Goldberger, der ebenfalls Ferdinand heißt, den Hof zu erster wirtschaftlicher Blüte. Auf das Wirtschaften versteht sich auch sein Sohn Thomas, der das Anwesen übernimmt. Zwischen Thomas und seinem Bruder, Paul, kommt es zu einer erbitterten Rivalität, die Letzteren gar zum Brandstifter am Eigentum der Familie werden lässt. Paul wandert nach Bolivien aus und schickt von dort aus nur noch jedes Jahr eine Postkarte in die Heimat. Nach seinem Tod bleibt der mechanische Gruß aus.

Der Fluch, auf den sich die Familie immer wieder selbst einschwört und für den als Zeichen der titelgebende rote Flieder steht, reicht damit allerdings erst in das sechste Glied. Dem Abschluss der Kette begegnen wir im neuen Roman. Pauls Sohn, von dem niemand wusste, dass er überhaupt existiert, taucht eines Tages auf dem Hof auf. Vom kinderlosen Thomas und seiner Frau Sabine wird der Bub, der der Familientradition gemäß Ferdinand heißt, gern aufgenommen. Die Wirtschaft indes will er, wie sich herausstellt, nicht übernehmen. Stattdessen geht er nach Wien, studiert dort (was auch der Autor getan hat) Landwirtschaft und arbeitet später im Ministerium.

Sein Lebensweg ist von der Geschichte der Familie vorgezeichnet. Susanne, seine Verlobte, bringt sich um. Nach einem kurzen Intermezzo auf dem Hof nimmt Ferdinand daraufhin den Weg seines Vaters und folgt dessen Spuren in Bolivien. Aus der Heimat erfährt er eines Tages, dass Thomas seinen von ihm zum Hoferben designierten Neffen, Leonard, in einem Streit erschlagen hat und nun im Gefängnis sitzt. An den Magdalenaberg zurückgekehrt, presst er dem Verurteilten eine Vereinbarung ab. Ferdinand übernimmt den Hof, angeblich, um ihn zu retten, verlangt aber von Thomas, dass er das Anwesen auch nach Abbüßung seiner Haftstrafe nie wieder betritt.

Gleich nach Unterzeichnung des Kontrakts, der gleichsam mit dem gesamten Blut der Familie geschrieben ist, beginnt Ferdinand, die Wirtschaft aufzulösen. In einer Szenerie, die Thomas Bernhard erfunden haben könnte, aber in einer Stilistik, die eher an Peter Handke erinnert, fährt Ferdinand von Hof zu Hof und von Bauer zu Bauer und löst mit sofortiger Wirkung alle Pachtverträge auf. Andere Teile des Guts werden verkauft, bis schließlich nur noch der vergleichsweise winzige und ursprüngliche Kern der Flächen übrig ist. Dort nun betreibt Ferdinand, eher als Hobby, landwirtschaftliche Anbauversuche, über die er penibel Buch führt.

Am Romanende taucht am Horizont der Goldberger'schen Familiengeschichte eine letzte Hoffnung auf. Die Tochter seines ehemaligen Chefs im Ministerium, eine junge Frau namens Judith, nähert sich Ferdinand (beziehungsweise er sich ihr) so weit an, dass man schon vermeint, die Hochzeitsglocken zu hören. Kaiser-Mühlecker indes, der die Spannung hier auf einen Höhepunkt treibt, lässt ein solches Gebimmel nicht zu. Am Ende von „Schwarzer Flieder“ fällt die Familie in einer jähen Wendung und mit aller Macht ihrer Geschichte auf sich selbst zurück. Eine weitere Fortsetzung des Buches ist dennoch nicht ganz auszuschließen. Der Leserschaft wäre dies durchaus zu wünschen, denn selten zuvor hat ein Autor die lange Geschichte einer Familie so glaubhaft ins Jetzt gezogen. Fast hofft man, dass die oberösterreichische Saga nicht zu Ende geht. ■

Reinhard Kaiser-Mühlecker

Schwarzer Flieder

Roman. 238 S., geb., €20,60 (Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.02.2014)

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