Wien – Stadt der Körperspender

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Hunderte Ärzte aus der ganzen Welt kommen Jahr für Jahr nach Wien, um anhand von Leichen ihr Handwerk zu perfektionieren. Denn nirgendwo gibt es mehr Präparate als hier.

Für eine „Millionenshow“-Frage wäre sie wohl zu morbid. Obwohl, vielleicht auch nicht. Denn wo sonst wird dem Tod stärker gehuldigt als in Wien? In der Stadt, in der ein prächtiges Begräbnis schon einmal „a schöne Leich“ genannt wird und viele Senioren für die angemessene Ausstaffierung ihres Grabes ein eigenes Konto anlegen. Der Tod selbst sei ein Wiener gewesen, heißt es sogar in einem alten Volkslied. Es ist schon eine seltsame, geradezu bizarre Liebe zum Jenseits, die hierzulande gepflegt wird.

Zur besagten Frage: Welche Stadt verfügt weltweit seit jeher über den größten Pool an Körperspendern? Wie bereits implizit verraten wurde, lautet die richtige Antwort natürlich Wien. Rund 40.000 Personen haben derzeit einen Vertrag (das sogenannte Vermächtnis zur Körperspende) mit der Medizinischen Universität Wien, in dem sie sich bereiterklären, ihren Körper nach dem Tod der Wissenschaft zu vermachen – eine Zahl, die sich seit Jahrzehnten konstant hält.


1000 Ärzte pro Jahr. Jährlich bekommt das Anatomiezentrum im Schnitt etwa 1800 Leichen. Die meisten werden in Formalinbecken konserviert – für die Sezierkurse der Medizinstudenten. 300 von ihnen stehen aber jedes Jahr der Med-Uni für die Fortbildung der Ärzte zur Verfügung. Was zur Folge hat, dass Mediziner aus der ganzen Welt nach Wien kommen, um anhand von Präparaten ihr Handwerk zu verfeinern. Hauptsächlich geht es dabei um das Einsetzen von Implantaten – neben Zahn- und Kieferimplantaten sind es zumeist Hüft-, Knie- und Schultergelenke. Bis zu 1000Ärzte reisen jährlich nach Wien, um sich in mehrtägigen Kursen anhand von „Fresh frozen“-Leichen fortzubilden. Frische, gefrorene Leichen also, die nicht in Formalin oder einem anderen Konservierungsmittel eingelegt sind und für die Lehrgänge wieder aufgetaut werden.

Initiator der Kurse für Zahnmediziner ist seit mittlerweile 15 Jahren Hannes Traxler von der Abteilung für systematische Anatomie des Zentrums für Anatomie und Zellbiologie der Medizinischen Universität Wien. „Als wir angefangen haben, war die Arbeit an frischen Leichen extrem ungewöhnlich; wir mussten uns dieses Tätigkeitsfeld erst langsam erkämpfen“, erzählt der Anatom und Allgemeinmediziner. „Aber nach und nach erlangten unsere Kurse über Österreichs Grenzen hinaus Bekanntheit und wurden immer stärker frequentiert.“


Mangel an Präparaten. Zunächst waren es hauptsächlich Mediziner aus Italien– aus Mangel an Präparaten, da in der katholisch geprägten Gesellschaft kaum jemand seinen Körper an die Wissenschaft vermacht. Nicht einmal während des Medizinstudiums wird dort anhand menschlicher Leichen gelehrt – die Gesetze bezüglich der Sektion von Leichen sind sehr restriktiv. In den vergangenen Jahren aber brach die Zahl an Ärzten aus Italien dramatisch ein. Die Wirtschaftskrise habe auch in diesem Segment ihre Spuren hinterlassen, vermutet Hannes Traxler.

Dafür kommen aber immer mehr Mediziner aus muslimischen Staaten, wie beispielsweise dem arabischen Raum und der Türkei. Nicht nur, weil auch in diesen Ländern die Möglichkeiten, mit anatomischem Übungsmaterial zu arbeiten, aufgrund mangelnder Körperspender sehr begrenzt sind (in streng muslimischen arabischen Nationen ist die Arbeit mit Leichen sogar verboten), sondern auch, weil die Med-Uni Wien in Sachen klinischer Forschung und innovativer Operationstechnik einen weltweit ausgezeichneten Ruf genießt. Auf Kongressen quer über den Globus wird für die Chirurgielehrgänge in der Bundeshauptstadt geworben.

Allein an Traxlers Kursen nahmen seit 1997 insgesamt 6000 Teilnehmer aus 61 Nationen teil. Mehr als 160 für gewöhnlich zweitägige Kurse waren dafür notwendig. Die meisten Ärzte sind zwischen 40 und 50 Jahre alt und bereits ausgewiesene Experten in ihrem Fach – etwa der rekonstruktiven Gesichtschirurgie, die in arabischen Ländern besonders gefragt ist. Nach Wien kommen sie, um ganz neue Operationsmethoden und Implantate auszuprobieren.

Seit zwei Jahren arbeitet die Med-Uni Wien auch mit der Goethe-Universität in Frankfurt zusammen. Gemeinsam wird ein Masterstudienlehrgang für Implantologie angeboten. Allein für dieses Jahr sind schon 15 Wochenendkurse von Traxler im Anatomy Training Centre in der Währinger Straße geplant, sogenannte Human Cadaver Courses.

Seinen Körper nach dem Tod in den Dienst der Forschung zu stellen ist in Österreich eine Tradition, die bis ins Josephinische Zeitalter zurückreicht. In der relativ aufgeklärten Gefolgschaft des Kaisers war es selbstverständlich, der Wissenschaft einen letzten Dienst zu erweisen.

Mittlerweile gibt es eine Reihe von Gründen, warum es in Wien so viele Körperspender gibt, glaubt Michael Pretterklieber, Leiter des Bereichs Körperspenden am Zentrum für Anatomie und Zellbiologie der Med-Uni Wien. „Einer davon ist sicher das große Einzugsgebiet, denn unsere Interessenten kommen nicht nur aus Wien, sondern auch aus Nieder- und Oberösterreich sowie aus dem Burgenland“, sagt der Anatom, der selbst auch Fortbildungskurse für Ärzte aus dem Ausland anbietet. „Auch das generelle Interesse an einer guten Ausbildung der nachkommenden Ärzte sowie die zunehmende Überalterung unserer Gesellschaft und die damit verbundene Alterseinsamkeit spielen sicher eine Rolle.“


450 Euro Selbstkostenbeitrag. Viele Körperspender hätten zudem keine lebenden Verwandten mehr und auch sonst niemanden, der die Organisation eines Begräbnisses und die Grabpflege übernehmen würde. Bei einigen werde wohl auch die Kostenfrage der Anreiz sein. Denn wer in Wien seinen Körper vermacht, zahlt 450Euro Selbstkostenbeitrag – um ein Vielfaches weniger also, als bei einem üblichen Begräbnis anfällt. Dafür wird man später in einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof beigesetzt. Seit 1965 gibt es dort zwei eigene Grabfelder für die Anatomie.

Sich die Kosten für eine Bestattung zu ersparen ist aber in den seltensten Fällen der Grund, warum Menschen ihre sterblichen Überreste den Anatomen überlassen“, ist Traxler überzeugt. „Vielmehr wollen sie auch nach ihrem Tod nützlich sein und einen Beitrag leisten. Das wird darin deutlich, dass unsere Körperspender aus allen sozialen Schichten kommen.“


Soziale Abende. Vor diesen Leuten habe Traxler mindestens so viel Respekt wie vor dem Wagemut der Chirurgen. „Es gibt in der Fortbildung keine Methode, die der Realität näher kommt als die Arbeit an frischen Leichen“, meint Traxler. „Man bekommt geradezu Demut vor der Schöpfung, wenn man sieht, wie viel Nutzen die Ärzte aus diesen Kursen ziehen und wie sehr sie damit Menschen helfen können.“

Eine Demut, die nicht nur in den Lehrgängen, sondern auch an so manchem gemütlichen Abend danach in der Luft liege. „Zwar geht es in unseren Kursen in erster Linie um eine fachliche Fortbildung, aber ich lege auch großen Wert auf soziale Kontakte“, betont Traxler. „Wir gehen dann mit den Teilnehmern zum Heurigen und unterhalten uns über unsere Herkunftsländer, dabei entstehen spannende, befruchtende Gespräche. Ich will nicht übertreiben, einen libanesischen Arzt mit einem Kollegen aus Israel an einen Tisch zu setzen mag vielleicht nicht der größte Beitrag zum Weltfrieden sein – aber ein Hoffnungsschimmer ist es allemal.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2014)

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