Bosnischer Frühling: Erwachen aus einem Wachkoma

Die Bürger Bosniens haben ihren Glauben an Zukunft noch nicht verloren.

„Wütende Bosnier legten das Zentrum Sarajevos lahm", betitelte die New York Times ihre Reportage von den jüngsten teils gewalttätigen Protesten in Bosnien-Herzegowina. Für einige Tage füllten Berichte aus Sarajevo und Bosnien-Herzegowina die ersten Minuten und Seiten von TV-Nachrichten und Zeitungen in der ganzen Welt - zum ersten Mal nach dem Krieg. Diesen Berichterstattungen folgte dann eine Welle an positiven Reaktionen und Solidaritätsbekundungen.

Tatsächlich befand sich dieses Land zu lange in einem Wachkoma: Fast vier Jahre blutigen Krieges waren mehr als genug, um viele Bewohner Bosnien-Herzegowinas nachhaltig zu traumatisieren. Und als viele dachten, dass die ersten Nachkriegsjahre einen umfassenden Wiederaufbau der Wirtschaft und Gesellschaft bedeuteten, blieb er weitgehend aus. Zahlreiche große Unternehmen aus der Vorkriegszeit wurden absichtlich heruntergewirtschaftet, um sie billig zu verkaufen: Die Opfer waren die ohnehin durch den Krieg verarmten Arbeiter und Angestellten, die Gewinner die neue oft kriminelle politische und wirtschaftliche Nachkriegselite. Wer konnte, suchte seine Perspektive im Ausland.

Fehlen einer klaren Vision

Dessen ungeachtet setzten die politischen Machthaber mit ihrer Kriegspolitik fort - diesmal nicht mit Waffen, sondern mit Worten und Blockaden. Einen politischen Konsens gibt es weder über die Vergangenheit noch um die Zukunft des Landes. Kaum ein wichtiges Gesetz wurde aus den heimischen politischen Kapazitäten verabschiedet, der Hohe Repräsentant der UNO hatte jahrelang unbegrenzte Befugnisse, setzte Hunderte von Politikern ab und ließ Gesetze über die Köpfe hinweg durchpeitschen. Gleichzeitig fehlte auch der internationalen Gemeinschaft eine klare Vision und Strategie für das Land.

Diese Situation, die man in Bosnien- Herzegowina „weder Krieg noch Frieden nennt", dauert seit fast 18 Jahren. Sie hat sich seit 2006 noch verschlimmert: Nach den gescheiterten Gesprächen über eine Verfassungsreform griff die internationale Gemeinschaft nur noch sporadisch in die internen Geschicke des Landes ein - Spannungen unter den politischen Vertretern dreier Völker und separatistische Bestrebungen im serbisch-dominierten Landesteil Republika Srpska nahmen zu, während die Nachbarländer Serbien, Kroatien und Montenegro wesentliche Fortschritte in Richtung EU machten. Die Folgen: desaströse Wirtschaftslage, fast 50 % Arbeitslose, Perspektivlosigkeit und Gültigkeit. Bosnien-Herzegowina ist heutzutage eine Gesellschaft, die ihre Werte weitgehend verloren hat: Vorbilder für die Jugend sind dort frischgebackene Millionäre, ihr Karriereziel ein wohl dotierter Posten in der zur Absurdität aufgeblasenen Verwaltung: Denn nur dort ist jeden Monat ein Gehalt garantiert.

Postive Reaktionen auf Proteste

Dann kamen die Proteste, die für viele Bosnier und Herzegowiner eine lang ersehnte Beendigung dieses unerträglichen Stillstands bedeuten - das mediale und gesellschaftliche Interesse an den Geschehnissen in diesem Land war in den letzten 18 Jahren nie so groß wie jetzt. Zum letzten Mal protestierten die Bürger von Sarajevo und Bosnien-Herzegowina in diesem Ausmaß Anfang April 1992, ihre Protestrufe wurden durch Granaten und Scharfschützen zum Verstummen gebracht. Nach 22 Jahren ist die Protestkultur in Bosnien-Herzegowina ein zartes Pflänzchen, das man vorsichtig gießen muss, um erste Früchte zu tragen. Die ersten Bürgerversammlungen nach den Protesten in Tuzla, Sarajevo oder Mostar geben uns die Hoffnung, dass man den Mut und Glauben an die Zukunft des Landes nicht verloren hat.

Nedad Memić (geboren 1977) ist gebürtiger Bosnier und Chefredakteur des zweisprachigen Magazins „Kosmo“ in Wien.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.02.2014)

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