Die schwarze Mär vom "Schweigen" Pius XII.

Vor 75 Jahren wurde Eugenio Pacelli Papst. Und der Mythos vom "Verbrecher" hat sich endlich überlebt.

Noch vor einigen Jahren hätten Kirchenkritiker vom Dienst einen solchen Jahrestag nicht ungenutzt verstreichen lassen. Vor 75 Jahren wurde aus Eugenio Pacelli Pius XII. – jener Papst, aus dem Rolf Hochhuth im Stück „Der Stellvertreter“ einen „Verbrecher“ machte, den Papst, der zum Holocaust „schwieg“.

Dieser Tage schweigen die Medien, taugt der Mythos nicht mehr? Seit den 1960er-Jahren gehörte er zum Arsenal von Nachgeborenen, die nach Schuldigen suchten, besonders gern bei allem, was nach Kirche roch. Unterfüttert wurde er von Historikern wie Saul Friedländer, die aus Geschichtssplittern ihren Richterstuhl zimmerten.

Vor den 1960er-Jahren war der Konsens entgegengesetzt: Da hatte Pius XII. in den Augen der meisten Historiker und Politiker, jüdischer und nicht jüdischer, moralisch richtig und mutig gehandelt. Er galt als „einsame Stimme“ im Schweigen der Staatenlenker zum Holocaust (schrieb die „New York Times“ im Krieg); Juden schätzten die Zahl der hinter den Kulissen durch ihn Geretteten auf bis zu Hunderttausende; israelische Politiker verehrten ihn, für Leonard Bernstein war er ein „wahrhaft großer Mann“.

Vermutlich ließ erst der historische Abstand das Fehlen des spektakulären „Schreis“ unverständlich erscheinen. Es stimmt nicht, dass der Papst, wie Hochhuth suggeriert, von allen Seiten angefleht wurde, öffentlich zu protestieren. Er wurde ebenso (etwa von römischen Juden) angefleht, es nicht zu tun. Auch der „herzlose“ Papst ist Erfindung. Er war zerrissen zwischen dem Drang, „aufzuschreien“, und der Angst, durch Fehleinschätzungen (wie beim Protest holländischer Bischöfe gegen die Juden-Deportationen) noch mehr Leben zu gefährden.

Allmählich aber verdrängt ein realistischeres Bild von Pius XII. den Mythos. Dass auch unverdächtige Intellektuelle wie Bernard-Henri Lévy gegen die schwarze Legende protestieren, ist symptomatisch. Seriöse Papstkritik kommt etwa vom Theologen Klaus Kühlwein. Im Buch „Warum der Papst schwieg“ hält er dessen Zurückhaltung nicht für einen moralischen, aber einen politischen Fehler. Fehler oder nicht, das werden wir freilich nie sicher wissen, auch nicht, wenn die Millionen Blätter umfassenden Archive seines Pontifikats endlich vollständig geöffnet sind.

Manche meinen, Franziskus werde den unter Benedikt XVI. begonnenen Seligsprechungsprozess für Pius XII. verschleppen, weil das Verhältnis der argentinischen Kirche zur Junta an das Verhalten des Vatikans gegenüber den Nazis erinnere. Vielleicht ist dieser Vergleich ungerecht – fragt sich nur, für wen.

anne-catherine.simon@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2014)

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