Spender wurden Täter

Evelyn Adunka und Gabriele Anderl dokumentieren jüdisches Leben in den Wiener Bezirken Ottakring und Hernals vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Und: Nicht nur Prominente kommen hier zu Wort.

In den letzten Jahren sind etliche bezirksgeschichtliche Darstellungen als Versuch der Rekonstruktion der Geschichte jüdischen Lebens in Wien erschienen, fast gehört die Aufarbeitung der ausgelöschten Welt mit einem Who was who zur touristischen Pflichtlektüre über das alte Wien. Was nun die Historikerinnen Evelyn Adunka und Gabriele Anderl auf Anregung der Bezirksvorstehungen Ottakring und Hernals vorgelegt haben, ist in seiner Authentizität und Reichhaltigkeit an Erzählebenen einzigartig.

Die parallele Aufarbeitung der Geschichte beider Bezirke und ihrer jüdischen Bewohner erklärt sich, da der Tempel in der Hubergasse für die Juden aus Ottakring und Hernals zuständig war. Die Autorinnen halten sich nicht mit chronologischer oder ortsspezifischer Geschichtsschreibung und deren Langatmigkeiten auf, sondern steigen nach einer kurzen Einführung, die jüdische Lebenswelten in einen demografischen und sozialhistorischen Kontext stellt, in individualgeschichtliche Zeitzeugnisse ein, die im Lauf der Lektüre von detailreichem Patchwork zur dicht verwobenen Gesamtdarstellung werden. Von Beginn an vertrauen die Autorinnen der Aussagekraft von Quellen und autobiografischen Erinnerungen gleichermaßen und lassen diese für sich sprechen, ohne weiter analysierende Bemühungen anzustellen oder gar eine zusammenfassende Perspektive jüdischer Schicksale einzunehmen.

Der Leser wird seinen Gedanken und Schlussfolgerungen überlassen, und die dargebotene Zeitreise führt weit in die Vielfalt verlorenen jüdischen Lebens in Wien hinein. Jede einzelne der skizzenhaften Familienbiografien – sei es die eines prominenten Ottakringers oder die eines unbekannten Schneiders aus Hernals – ist in den Zeitraum von Ende des 19.Jahrhunderts bis in die Gegenwart eingebettet und erzählt dieselbe Geschichte auf mannigfaltige Weise immer wieder, bis sie im Gesamten verstanden werden kann. Dies gelingt auch, weil die Schnittmenge an Archivquellen, zeitgenössischen Publikationen und heutigen Stimmen trotz Detailfülle gut lesbar ist. Gerade die Kleinteiligkeit mancher Erinnerung oder Quelle beschreibt die Willkür und Perfidie der Verfolgung, Beraubung und Deportation der jüdischen Mitbürger von Ottakring und Hernals auf einprägsame Weise.

Eine weitere Stärke der Arbeit sind die Aufmerksamkeit und die Sorgfalt, die den Lebensgeschichten oft unbekannter Personen gewidmet sind, und zwar gleichwertig zu den Biografien bekannter Lokalmatadore wie etwa Ignaz Kuffner, dem ehemaligen Bürgermeister Ottakrings vor der Eingliederung in die Stadt Wien, der als Brauhausbesitzer und Förderer humanitärer Einrichtungen und Gründer der Cultusgemeinde von Hernals, Ottakring und Neulerchenfeld auch heute ein Begriff ist. Aber auch die im ersten Teil der Publikation vertiefte Geschichte jüdischer Institutionen und Vereinen reflektiert die handelnden Personen und setzt ihnen somit ein Denkmal, das in weiteren Forschungen sicherlich Beachtung finden wird. Überhaupt bietet die Publikation einen Fundus an historischen Kenntnissen, die mit einmaligem Lesen nicht erfasst werden können. Insofern eignet sich das Werk auch zur Verwendung im Unterricht und zur Fortschreibung durch die universitäre Zeitgeschichtsforschung und zur bezirksgeschichtlichen Aufarbeitung im Zuge der Denkmalerrichtung und Erinnerungsarbeit an Ort und Stelle.

Das von den Autorinnen Adunka und Anderl intendierte eindringliche Nacherzählen ohne Kommentar lässt den Leser zum sich der Geschichte selbst nähernden Zeitzeugen werden, dem der rasante Entzug aller Menschenrechte und die Vernichtung ehemaliger Mitbürger vor Augen geführt und ausreichend dokumentiert wird. Das Buch hält jedoch nicht bei der Beschreibung des Lebens in Ottakring und Hernals bis 1945 an, sondern legt seine Erzählstränge bis zur zweiten und dritten Generation der Vertriebenen und würdigt deren Auseinandersetzung mit dem Schicksal und der Heimat ihrer Vorfahren.

Der bekannte Schriftsteller Frederic Morton, der als Fritz Mandelbaum 1924 in Wien Hernals geboren wurde, kam sogar als Gast zur Buchpräsentation, er und viele andere befassten sich literarisch mit ihrer Herkunft in den Wiener Vororten, etwa setzte Morton seiner Großmutter Regina Ungvary, einer Drechslermeisterin aus Ottakring, ein Denkmal, auch wird an vergessene Schriftsteller wie Albert Ehrenstein oder Adele Jellinek erinnert. Für sozialhistorisch Interessierte spannend sind zudem die biografischen Skizzen zu Gewerbetreibenden, Handwerkern und Geschäftsleuten, doch auch Künstler und Wissenschaftler wie Alfred Adler oder der vergessene Operettenkomponist Edmund Eysler, der noch 1924 das Goldene Ehrenzeichen der Stadt Wien bekommen hat, die Maler Arik Brauer und Ernst Fuchs komplettieren die Fundgrube an Erinnerungsstücken. Was vielen Lebensgeschichten gemeinsam ist, und hier haben die Autorinnen Geschichte unbeirrt weitererzählt und in einen Zusammenhang mit den politischen Verhältnissen der Zweiten Republik gebracht, ist die Kontinuität der Entwurzelung weit über 1945 hinaus, geprägt von Krankheit, Depression und frühem Tod.

Nicht zuletzt verschafft diese Arbeit einmal mehr die Einsicht, dass Assimilation und Integration von Minderheiten diese unter bestimmten Konstellationen der Ausgrenzung, des Rassismus und der sozialen Segregation nicht vor Verfolgung, Vertreibung und letztlich Vernichtung schützen können. Die Geschichte der damals wie heute traditionellen Einwanderungsbezirke Ottakring und Hernals mit ihrer Verdichtung sozialer Probleme zeigt, wie zeitlich kurz und räumlich nahe der Weg von einem Miteinander zu Hass und Vertreibung sein kann. Wurde 1886 in der Danksagung anlässlich der Einweihung des Tempels in der Hubergasse besonders den „christlichen Spendern des Gotteshauses“ gedankt, wurde der Tempel Jahre später von jenen zerstört.

Der Weg zu diesem Moment der Geschichte wird mittels der hier dokumentierten Familiengeschichten minuziös nachgezeichnet und gibt wertvolle Hinweise auf die Parameter für wachsenden Antisemitismus und Rassismus bis zur Entstehung von Verfolgung und Auslöschung von Minderheiten. Ein Gedanke begleitet die Lektüre dieses Buchs und die an Tiefenschärfe einmalige Wahrnehmung der Schicksale der jüdischen Mitbürger Wiens: Sie fehlen bis heute. ■

Evelyn Adunka, Gabriele Anderl

Jüdisches Leben in der Wiener Vorstadt

Ottakring und Hernals. 390S., geb., €24,90 (Mandelbaum Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.03.2014)

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