Im Zeichen des Zyphius

Wien vor 50 Jahren. Die Kinos sind voll, doch die Botschaft, dass es im Film um Kunst und ihre Zeit geht, ist noch nicht wirklich angekommen. In dieser Situation gründen Peter Konlechner und Peter Kubelka das Österreichische Filmmuseum. Zu den Anfängen einer Institution von Weltrang.

In den frühen Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts gab es in Wien wesentlich mehr Kinos als heute, und die waren besser über die Stadt verteilt. Der Schleichhandel für die meist ausverkauften Abendvorstellungen der Premierenkinos blühte, war aber für die Schleichhändler, in Wien „Agioteure“ genannt, nicht nur mit finanziellem Risiko, sondern auch mit körperlichen Mühen verbunden: Um 20.30 Uhr begann die Vorstellung im Künstlerhauskino, aber spätestens knapp nach halb mussten sie lossausen, um ihre Karten vor dem Wienzeilekino auf dem Naschmarkt zu verkaufen, wo die Vorstellung um 20.45 Uhr begann, und bald nach drei Viertel zum Opernkino auf dem Karlsplatz rennen, wo es um 21 Uhr anfing. Das waren durchaus bewältigbare Distanzen, sie mussten aber im Laufschritt zurückgelegt werden, sollte das Geschäft florieren. Und das tat es, meistens wurden sie ihre Kinokarten zu stark überhöhten Preisen los. Wer das Spiel kannte und unmittelbar, ehe sie rennen mussten, kaufte, kam billiger davon – riskierte allerdings, dass auch der Schleichhandel schon vorher ausverkauft war.

Die Wiener Kinos vor 50 Jahren waren also gut besucht, die Premierenkinos meistens voll, aber: Es gab nichts, was man als Filmkultur bezeichnen könnte. Es gab ein paar Kinos mit etwas höheren Ansprüchen an ihr Programm. Und der Film galt auch nicht mehr als Praterbudenattraktion für die Unterschicht wie in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens. Der Film war ein allgemein akzeptiertes Unterhaltungsmedium für unterschiedliche ästhetische und intellektuelle Ansprüche. Zwar war inzwischen international längst klar, dass der Film die Kunstform des 20. Jahrhunderts ist, in der sich die Zeit, ihr Geist, ihre Ästhetik, ihre Moden, ihre Schrecken, ihre Lügen am genauesten spiegeln, eine unerschöpfliche Quelle von „The Birth of a Nation“ und Dr. Mabuse, den Screwball Comedies der Dreißigerjahre über den Heimatfilm der Fünfzigerjahre bis zum Slaughter-Film der Gegenwart – aber in Wien war die Botschaft, dass es im Kino um Kunst und ihre Zeit geht, noch nicht wirklich angekommen.

In dieser Situation gründeten Peter Konlechner und Peter Kubelka im Februar 1964 das Österreichische Filmmuseum, hervorgegangen aus dem Cinestudio der Österreichischen Hochschülerschaft an der Technischen Hochschule, wo Konlechner studierte. Um zu verstehen, welche Großtat das war, muss man sich das kulturelle Klima jener Jahre vergegenwärtigen: Es gab die etablierten Großveranstalter Burg, Oper, Musikverein, Konzerthaus, Kunsthistorisches Museum und noch ein paar mehr – und das soll keineswegs gering geschätzt werden. Aber wer zum Beispiel französisches absurdes Theater sehen wollte, musste weit in die Vorstadt ins kleine Theater am Lichtenwerd fahren, und wer Stücke von Artmann und der Wiener Gruppe sehen wollte, konnte das in der Studentenbühne „Die Arche“. Artmann war damals schon über 40, galt aber in Wien seit der „schwoazzn dintn“ immer noch als junges Talent.

Untaten – und das Schweigen darüber

Die Stadt war immer noch ziemlich arm, von Bürgerkrieg, Nationalsozialismus, den eigenen Untaten und dem Schweigen darüber traumatisiert und alles eher denn aufgeschlossen für Neues. Und ganz besondere Wut galt der „modernen Kunst“. Der Germanist Karl Müller hat das 1990 umfassend beschrieben in seiner Studie „Zäsuren ohne Folgen. Das lange Leben der literarischen Antimoderne Österreichs seit den Dreißigerjahren“. Ende der Sechzigerjahre bricht diese Herrschaft der Antimoderne im Kulturbereich krachend zusammen, aber noch sind wir nicht so weit. In den frühen Sechzigern hat es in Wien drei wichtige Neugründungen gegeben, die man nachträglich als Vorboten eines kommenden Machtwechsels verstehen kann: die Österreichische Gesellschaft für Literatur, das Museum des 20.Jahrhunderts und eben das Österreichische Filmmuseum. Damit gingen in Wien Fenster auf, die bis dahin zu gewesen waren. Und nicht nur für Wien, für Österreichs kulturelles Klima insgesamt war das wichtig. Das Filmmuseum kannman als die modernste dieser neuen Institutionen bezeichnen, weil es nicht der zeitgenössischen Pflege einer tradierten Kunstform galt, sondern eine neue zeitgenössische Kunstform etablierte.

Hier soll neben den Gründern des Filmmuseums, Konlechner und Kubelka, deren Arbeit aller Preise und Auszeichnungen würdig ist, die Stadt und Staat zu vergeben haben, noch auf eine dritte Person hingewiesen werden, die von allem Anfang dabei war und die zum Erfolg des Filmmuseums beigetragen hat: die Künstlerin Gertie Fröhlich. Von ihr stammt das Logo des Museums, jenes walfischartige Untier, das aber kein Wal ist, sondern ein Zyphius. Dem Katalogvorwort von John Sailer zur Ausstellung der Filmmuseumsplakate von Gertie Fröhlich in der Galerie Ulysses 2005 entnehme ich: Der Zyphius sei ein Fabelwesen aus einer Abhandlung von 1558. Dort hat ihn Gertie Fröhlich entdeckt. Und was hat der Zyphius mit dem Filmmuseum zu tun? Offen gestanden: nichts. Angeblich sei der Zyphius ein brauchbares Symbol, weil er sowohl unter Wasser als auch zu Lande leben könne und deswegen optimale Überlebenschancen habe – was auch dem Filmmuseum zu wünschen sei. Selbst wenn man davon absieht, dass das schon deswegen sinnlos ist, weil es den Zyphius im Gegensatz zum Filmmuseum nie wirklich gegeben hat und er daher weder überleben noch aussterben konnte: Diese Deutung scheint allzu hanebüchen. Das heißt: Der Zyphius hatmit dem Filmmuseum nichts zu tun und ist gerade deswegen zum idealen Logo geworden und bis heute geblieben.

20 Jahre lang, 1964 bis 1984, hat Gertie Fröhlich die Plakate des Österreichischen Filmmuseums gestaltet, hat jeden Monat ein kleines Kunstwerk geschaffen und dabei gelegentlich auf das Zyphius-Prinzip zurückgegriffen: den größtmöglichen Gegensatz zwischen Plakat und angekündigtem Filmprogramm herzustellen und gerade dadurch einen ästhetischen Stolperstein zu schaffen, der nicht zu übersehen ist. Unvergessen ihr Plakat für die Buñuel-Retrospektive im Rahmen der Viennale 1969: weiße Schafe, grüne Wiese, blauer Himmel, weiße Wolken. Was diese betont harmlose Idylle mit Buñuel zu tun hat? Nichts. Vielleicht aber doch? Wir grübeln. Wir erinnern uns an den zerschnittenen Augapfel in „Un chien andalou“. Buñuel, die Lamperln, der Himmel – passt, weil es nicht passt. So entstanden Werbung und Information mit Witz und hohem künstlerischem Anspruch für ein Institut mit hohem künstlerischem Anspruch.

Die Zusammenarbeit mit der Viennale hat sich bewährt. Zur Retrospektive „Propaganda und Gegenpropaganda im Film 1933–45“ während der Viennale 1972 erschienein wichtiges Begleitbuch, weil ein Museum eben nicht nur Ort der Schaustellung, sondern auch Ort der wissenschaftlichen Befassung ist. So hat sich das Österreichische Filmmuseum zeit seines Bestehens selbst verstanden. Das begann bereits im Gründungsjahr, 1964, mit drei schmalen Publikationen: „Klassiker des russischen Films“, „Petit Festival Georges Méliès“, „Sergej Eisenstein“. Es folgten: „Erich von Strohheim. Eine Montage von Selbstzeugnissen, Zitaten und Fakten“, „The Marx Brothers“, „Dziga Vertov. Aus den Tagebüchern“ und so weiter. Die Bandbreite der Publikationen ist groß und umfasst auch Genres für ein Massenpublikum wie Western und Gangsterfilm.

Die allererste Aufgabe war jedoch die eines jeden neu gegründeten Museums: Sammeln. Spielfilme, Dokumentarfilme, experimentelle Kurzfilme, Wochenschauen, Avantgarde, Propaganda – was filmisch festgehalten wurde, war wichtig. Inzwischen ist daraus eine international bedeutende Sammlung geworden, die das Werk von Martin Scorsese, dem Ehrenpräsidenten des Österreichischen Filmmuseums, ebenso enthält wie kurze, unbearbeitete Amateurfilme über den „Anschluss“ im März 1938. Denn auch aus solchen Filmschnipseln kann der Historiker Erkenntnisse gewinnen. Untrennbar mitdem Sammeln verbunden ist das Restaurieren von Filmen. Auch das ist Teil der bedeutenden wissenschaftlichen Arbeit, die das Filmmuseum zu leisten hat.

Respekt vor dem Material

Eine persönliche Erinnerung sei hier gestattet: Als junger Historiker wurde ich 1969 von Peter Konlechner mit der Aufgabe betraut, das bis dahin gesammelte, aber noch weitgehend ungeordnete Dokumentarfilmmaterial des Filmmuseums zu sichten, zu bewerten und zu katalogisieren. Ich habe diese Arbeit geliebt, auch wenn sie mich zuweilen vor große Probleme stellte. Geliebt deswegen, weil die Arbeit mit Filmdokumenten, auch wenn sie Jahrzehnte alt sind, etwas unglaublich Lebendiges und Spannendes ist, und Probleme deswegen, weil es manchmal doch sehr schwierig war, Filmteile mit 50 Sekunden Länge, zu denen keinerlei Angaben vorhanden waren, richtig zuzuordnen: Wann könnte das gedreht worden sein, wo könnte das gedreht worden sein, und was sehe ich hier überhaupt? Dazu kam gleichzeitig der tiefe Respekt vor dem Material, der jede Mitarbeiterin, jeden Mitarbeiter des Filmmuseums geradezu zwangsläufig im Zuge der Arbeit erfasst. Respekt und Liebe: Daraus wächst die Verpflichtung, möglichst wenig falsch zu machen. Manchmal denke ich daher mit etwas Unbehagen an die Fehler, die mir damals beim Katalogisieren der vielen Dokumente sicherlich passiert sind. Aber es war ein Anfang.

Und weil aller Anfang bekanntlich schwerist, war es auch hier so. Wichtig für die beiden Gründer des Filmmuseums war, dass ihnen seit Beginn der Rechtsanwalt Heinrich Wille als Obmann zur Seite stand. Dr. Wille hat Aufstieg und Erfolg des Österreichischen Filmmuseums über mehr als 40 Jahre als Obmann mitgetragen, von 1964 bis 2005, eine unglaubliche Zeitspanne. Das war nicht immer leicht, denn die finanziellen Schwierigkeiten gerade in den ersten Jahren waren beträchtlich. Das Budget ist inzwischen gewachsen, aber die Anforderungen ebenfalls. Das Geldproblem hört nie auf – da mag das Museum noch so bedeutend sein. Und es ist bedeutend, als Kino wie als Forschungsstätte. Was das Österreichische Filmmuseum besonders auszeichnet, ist die Kompromisslosigkeit seines Programms, des künstlerischen wie des wissenschaftlichen. Daran hat sich von 1964 bis 2014 nichts geändert. Eine gerade Linie führt von Konlechner und Kubelka zu Alexander Horwath, dem Direktor des Hauses seit 2002. So entstand ein Museum von Weltrang. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.03.2014)

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