Die Russen im „nahen Ausland“

RUSSIA PUTIN MEDVEDEV WREATH
RUSSIA PUTIN MEDVEDEV WREATH(c) EPA
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Putin als Beschützer der Auslandsrussen. Von der Ukraine bis Kasachstan versucht Moskau, die Minderheit an sich zu binden – mit Erfolg. In der russischen Sprache gibt es dafür einen eigenen Ausdruck: nahes Ausland.

Wien/Moskau. Der Augustkrieg in Georgien war gerade einmal zwei Wochen vorüber, als der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew zu einer Rede anhob. Darin skizzierte er die russische Sicht auf den postsowjetischen Raum. „Wie andere Staaten der Welt hat auch Russland an bestimmten Regionen ein privilegiertes Interesse“, erklärte er. Dass dieses Interesse Folgen hat, bewies Moskau der Welt: Nach den Kampfhandlungen, die etwa 850 Menschenleben gefordert hatten, erkannte man die abtrünnigen Gebiete Südossetien und Abchasien als eigenständige Staaten an. Die Region, von der Medwedjew sprach, ist jedoch größer: Es ist der gesamte postsowjetische Raum.

Weder Medwedjew noch der jetzige Präsident Wladimir Putin haben je ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie die Staaten der früheren Sowjetunion als ihre Einflusssphäre betrachten. In der russischen Sprache gibt es dafür einen eigenen Ausdruck: nahes Ausland.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat Russland als Staat, der sich als Nachfolger des Riesenreiches begreift, nicht nur Territorium verloren, sondern auch Bevölkerung.

In den 14 ehemaligen Sowjetrepubliken leben bis heute nach Informationen des russischen Außenministeriums 17Millionen ethnische Russen. Große Diasporagemeinden gibt es in Lettland, Estland, Litauen, in Weißrussland und der Republik Moldau, in Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan. In den Neunzigerjahren sind bis zu sieben Millionen ethnische Russen in ihre frühere Heimat bzw. die ihrer Vorfahren zurückgekehrt: Gründe dafür waren die schwierige ökonomische Lage in den neuen unabhängigen Republiken, Bürgerkriege und die allgemeine Verschlechterung ihres sozialen Status. Während Russland in den turbulenten Neunzigern nicht die finanziellen Mittel hatte, seine Diaspora zu unterstützen, bekam ihre Förderung im ökonomisch erstarkten Russland Wladimir Putins einen neuen Stellenwert.

(c) Die Presse

Schutzbedürftige „Landsleute“

Die Moskauer Führung betrachtet die Auslandsrussen nicht einfach als Bürger eines anderen Staates, sondern definiert sie als Landsleute. Russland fühlt sich diesen Bürgern, denen es aufgrund von Sprache, Religion und der einst geteilten Geschichte eine Identifikation mit Russland unterstellt, verantwortlich.

Im aktuellen Fall auf der Krim dient die angebliche Bedrohung der „Landsleute“ sogar als Rechtfertigung für ein militärisches Eingreifen. Im Jahr 2010 änderte Moskau seine Militärdoktrin, die nun besagt, dass ein Einsatz der Armee zum Schutz russischer Bürger im Ausland gerechtfertigt sei.

In den früheren Sowjetrepubliken fördert Russland die Identifikation mit dem „Mutterland“ aktiv. Konsulate, Kultureinrichtungen und staatliche Vereine sind in diesen Ländern breit vertreten. Weiteres wichtiges Instrument ist die großzügige Vergabe russischer Staatsbürgerschaften. Vor allem in den international nicht anerkannten Konfliktgebieten Südossetien, Abchasien und Transnistrien bietet ein russischer Pass oft die einzige Möglichkeit, ins Ausland zu reisen, da die Reisedokumente der Lokalbehörden international nicht anerkannt werden. Gleichzeitig erweist sich diese Dynamik funktional für die russische Argumentation: Je mehr Bürger der Russischen Föderation vor Ort, desto mehr „Schutzbedürftigkeit“.

Wie die Auslandsrussen ihre Identität selbst definieren, bleibt in der offiziellen Sicht außerhalb des Fokus. Denn nicht alle ethnischen Russen im postsowjetischen Raum träumen von einem Anschluss an Russland. Beispiel Krim: Laut einer Umfrage von Gallup International vom Mai 2013 gaben 40 Prozent der Befragten an, sich (unabhängig von ihrem Pass) als Russen zu fühlen. Jedoch sprachen sich damals nur 23 Prozent für einen Anschluss an Russland aus. 53Prozent stimmten für die Beibehaltung des Status quo. Ähnlich ist es in der Ostukraine: Dort definierten sich viele bislang als russische Bürger der Ukraine. Zudem gibt es im Land die große Gruppe der „Russischsprachigen“ – ethnische Ukrainer oder Menschen aus gemischten Familien, deren Mutter- und Alltagssprache schlicht Russisch ist. Diese Gruppe wird auf acht bis elf Millionen Menschen (von insgesamt 45 Millionen) geschätzt.

Staatenlose Russen im Baltikum

Streitpunkte zwischen Russland und den Ex-Sowjetrepubliken in der Minderheitenproblematik konzentrierten sich zuletzt vor allem auf Themen wie Staatsbürgerschaft, Sprachenrechte und den (aus russischer Sicht problematischen) Umgang mit dem Sowjet-Erbe. Bei Maßnahmen, die den sowjetischen Befreiermythos infrage stellten, reagierte man stets rigoros: Als Tallinn 2007 den Standort eines sowjetischen Bronzesoldaten verlegen wollte, drohte Moskau umgehend mit Wirtschaftssanktionen. Laut estnischer Regierung betrugen die Einbußen innerhalb eines Jahres fast eine halbe Milliarde Euro.

AUF EINEN BLICK

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verblieben in den 14 Ex-Sowjetrepubliken (außerhalb der Russischen Föderation) zahlenmäßig große russische Minderheiten. In Kasachstan leben bis heute 4,5 Millionen ethnische Russen. In Lettland, Usbekistan und Kirgisistan machen sie jeweils etwa 600.000 Menschen aus.

Diese „Landsleute“, wie Russland sie definiert, bedürfen eines besonderen Schutzes. Auch militärisches Eingreifen sei gerechtfertigt, so die Verteidigungsdoktrin aus dem Jahr 2010. Die Doktrin entstand unter dem Eindruck des Georgien-Kriegs von 2008, in dem Moskau ebenfalls erklärt hat, die Rechte von Russen zu verteidigen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2014)

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