Unsere Bildungspolitik produziert Verlierer: Es sind die Buben

Männer gewöhnen sich langsam an ihre Erziehungsaufgaben. Aus Kindergärten und Volksschulen aber sind sie weitgehend verschwunden.

Vor 25 Jahren erteilte mir mein psychoanalytischer Übervater in New York eine Belehrung. Ich war wortreich für den Grundsatz mütterlich-beschützender Erziehung eingetreten. Er aber, der noch in Wien mit Anna Freud, Erik H. Erikson und Bruno Bettelheim gearbeitet hatte, meinte: „Eine der größten Tragödien der modernen Erziehung ist das Verschwinden der Väter.“ Ich wandte Kafkas „Brief an den Vater“ ein, erinnerte an das Muttermal in der Leistengegend von Clarisse – so weit hatte sich der Vater in Musils Roman bei seiner dreizehnjährigen Tochter vorgetastet – und dachte insgeheim an die eigenen Schläge.

Ein Vierteljahrhundert später gebe ich meinem Übervater aber recht: Die Abwesenheit der Männer in der institutionellen Erziehung ist eine Tragödie. Sie trifft Buben und Mädchen gleichermaßen.

Dank der Frauenbewegung hat sich das Erziehungsverhalten in den Familien langsam verbessert. Väter lernen, vielleicht zum ersten Mal in der westlichen Kultur, mit Kleinkindern umzugehen: Ein Fortschritt, der mehr durch die Benachteiligung von Frauen durch die Kindererziehung als von entwicklungspsychologischen Überlegungen ausgelöst wurde. Kinder und Jugendliche brauchen aber nicht nur Väter, sie brauchen auch mehr Männer im Alltag der Kindergärten und Schulen. Fordert man das, erntet man meist ein achselzuckendes „Dann sollen sich halt mehr Männer melden“ – eine Reaktion, die fatal an das hinhaltende Abwehrverhalten männerdominierter Organisationen gegen einen gleichen Frauenanteil erinnert.

Das Warten genügt nicht. Man muss etwas tun. In diesem Zusammenhang stimmt mich die Kombination von Unterrichts- und Frauenministerium nachdenklich. Es heißt Frauen-, nicht Genderministerium – und dieser kleine Unterschied ist keine Haarspalterei. Eine „Gender Equality Perspective“ würde zeigen, dass es um Frauen und Männer geht, während die in der österreichischen Bildungspolitik dominierenden Konzepte fast nur bei Mädchen und jungen Frauen ansetzen. Ein Genderministerium würde zum Beispiel den Schulverlauf von Mädchen und Buben untersuchen und etwas herausfinden, was niemand hören will, obwohl es die Bildungsberichte 2009 und 2012 eindrucksvoll belegen: Es sind die Buben, die benachteiligt werden.

Buben treten später in die Schule ein, erhalten für gleiche Leistungen schlechtere Noten, bleiben öfter sitzen und sind überproportional in Einrichtungen für verhaltensauffällige Kinder vertreten. Dafür maturieren sie unterproportional zu ihrem Geschlechteranteil. Der Bildungsbericht 2009: „Die Problematik manifester Benachteiligung hat sich eindeutig zulasten der Buben entwickelt.“ Die politische Konsequenz ist null.

Machen wir ein Gedankenexperiment: Was würden wir sagen, wenn Mädchen bei gleicher Leistung schlechter benotet, häufiger zu Psychologen geschickt würden, öfter sitzen blieben, bei der Matura eine Minderheit bildeten – und das alles würde von männerdominierten Lehrkörpern entschieden? Zu Recht würden wir von einer strukturellen Ungerechtigkeit, ja: von Sexismus reden. Bei Buben genügt der Hinweis, sie seien schlimm.

Die männerfreie Schule ist ein Unding. Sie enthält Buben wie Mädchen ein Rollenverhalten vor: jenes des Mannes. Stellt man heute keine Weichen, wird das in den nächsten Jahrzehnten so bleiben. Derzeit stellen die Frauen 70 bis 80 Prozent der Lehramtsstudierenden. Ein Genderministerium müsste um junge Männer werben. Verlangt man das, wird man entweder in das Stereotyp vom weinerlichen neuen Mann oder das Zerrbild eines testosterongesteuerten Misogynen eingereiht.

In dieser politischen Apathie gibt es nur zwei Hoffnungen: Mütter von Buben, die ein Defizit an männlichen Erziehern verspüren, und feministische Schulleiterinnen, die sich selbstbewusst um mehr Männer an ihren Schulen bemühen. Traurig nur, dass keine der Vertreterinnen dieser Pädagogik je eine Chance hatte, Unterrichtsministerin zu werden.

E-Mails an:debatte@diepresse.comZum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2014)

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