Die schwere Wahl zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg

Die einen fürchten, dass sich auf der Krim eine Neuauflage des Ersten Weltkriegs ankündigt, die anderen sehen Putin auf Hitler'schem Expansionskurs.

Zwei Narrative beherrschen die intellektuelle Debatte über das angemessene Verhalten der westlichen/restlichen Welt gegenüber Russland in der Ukraine-Krise. Das eine streicht die Parallelen zwischen der aktuellen Situation und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs heraus, das andere arbeitet stärker mit Anspielungen auf die Situation vor dem Zweiten Weltkrieg.

Unter einem Weltkrieg, das scheint die Maxime der Debattenhäuptlinge im Wilden Feuilletonwesten zu sein, machen wir's nicht. Natürlich braucht man für jede dieser Erzählungen auch den passenden Erzähler. Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ hat zwei gefunden.

Im Politikteil fragt ein gewisser Martin Schulz – der Text legt nahe, dass es sich um den Spitzenkandidaten der europäischen Sozialdemokraten bei den kommenden Europawahlen handelt, ausgewiesen wird das allerdings nicht – sich selbst und uns, ob es in Europa noch einmal zum Schlimmsten kommen könne wie vor 100 Jahren. Zwar beobachte er „mit großer Sorge [...], wie sich in Europa wieder eine Renationalisierung ausbreitet“, schreibt Herr Schulz, aber dank der gemeinsamen europäischen Institutionen werde sich die Geschichte nicht wiederholen. Europa stehe heute mehr fürs Reden als fürs Kämpfen, und das sei doch schön.

Wunderschön ist das, keine Frage. Es würde nur relativ wenig nützen, wenn der zweite Autor, den die „FAS“ in ihrem feuilletonistischen Russland-Feldzug aufbietet, recht hätte: „Putin ist verrückt“, lautet der Titel eines Textes von Niklolai Klameniouk, der das Feuilleton eröffnet. Die „Russland-Versteher“, die hinter der Politik des russischen Präsidenten ein rationales Kalkül oder gar legitime Interessen identifizieren wollten, seien nicht minder behandlungsbedürftig, meint der auf der Krim geborene Journalist, der für „Forbes Russia“ und für das 2013 vom Netz genommene Webportal PublicPost.ru gearbeitet hat und jetzt in Berlin lebt.

Der irrationale Machthunger des neuen Zaren sei im Übrigen endlos, meint Klameniouk: „Als nächstes Ziel ist eines der baltischen Länder dran, vermutlich Lettland. Dann sind die Europäische Union, die Eurozone, die Nato und die UN nichts weiter als Erinnerungen an eine schöne Vergangenheit.“

Die Vergleiche mit den beiden großen Kriegen des 20.Jahrhunderts liege verlockend nahe. Der Irredentismus, die Vorstellung, alle Mitglieder der eigenen Nation in einem staatlichen Gebilde vereinen zu wollen, der die ideologische Grundlage der serbischen Expansionspolitik um 1900 gebildet hat, dominiert auch die russische Rhetorik auf der Krim und in der Ostukraine. Und es kann sein, dass eine „Appeasement“-Strategie, die mit dem Münchner Abkommen Hitlers Expansionsdrang nicht nur nicht gezügelt, sondern weiter angestachelt hat, auch Putin das Baltikum als nächste leichte Beute schmackhaft machen könnte.

Die Antwort auf die Frage, warum welcher Erzähler welche historische Parallele wählt, ist einfach: Herr Schulz wählt 1914, weil er weiß, dass die von ihm beschworenen Institutionen in dem Fall, dass Klameniouks Putin-Hitler-Vergleich den Kern der Sache trifft, ungefähr so viel wert wären wie das Wiener Salzamt. Und Herr Klameniouk muss, wie alle Anti-Russland-Versteher, Putin mit Hitler gleichsetzen, um dem Westen klarzumachen, dass man jetzt auch bereit sein müsste, der russischen Expansion militärisch entgegenzutreten, um eine Neuauflage der ganz großen Katastrophe zu verhindern.

Die Tragik dieser Debatte besteht also darin, dass genau die Entwicklung, die Martin Schulz so euphorisch beschreibt, verhindert, dass das passiert, was Nikolai Klameniouk so verzweifelt fordert. Bei der Kritik an der Ukraine-Politik der EU geht es nicht um „Russland-Verstehertum“. Es geht darum, dass sich die EU als politisch-militärischer Eunuch entpuppt, der seine Versprechungen nicht halten kann.

E-Mails an:office@michaelfleischhacker.at

Zum Autor:

Michael Fleischhacker (*1969) arbeitete als
Journalist bei der
„Kleinen Zeitung“
und beim „Standard“, ab 2002 bei der „Presse“.
Von 2004 bis 2012 war er Chefredakteur der „Presse“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2014)

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