Bildung versus Praxis: Die zehn größten Marketingschmähs

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Blick zurück in Zynismus. Heino Hilbig hat Marketing von der Pike auf gelernt. Nach 25 Jahren Praxis warnt er den Nachwuchs, nicht alles für Wissenschaft zu halten, was so präsentiert wird.

Knapp 1000 Studenten büffeln an der WU in Wien gerade Marketing. Wahre wissenschaftliche Wunderwaffen werden hier wie anderswo gelehrt, wettert der Deutsche Heino Hilbig in seinem Buch „Marketing ist eine Wissenschaft ... und die Erde eine Scheibe?“ Doch in der Praxis werden sie dann nach Belieben verdreht. Hilbig war 25 Jahre für das Marketing von Casio, Time/System und Olympus verantwortlich. Nun schrieb er sich einen ernüchterten Vergleich von Theorie und Praxis in zehn Beispielen von der Seele.

1. „Wissenschaftlich belegt“
Kaum beruft sich die Werbeagentur auf vermeintlich wissenschaftliche Erkenntnisse, hören Marketer reflexartig auf, Dinge zu hinterfragen, meint Hilbig. Da werde dann versucht, mithilfe angeblich wissenschaftlich untermauerter Analysen Kunden vorab von der Wirksamkeit einer Kampagne zu überzeugen. Allein in Deutschland existierten 80 verschiedene Bewertungsmodelle. Eines wird schon schon das gewünschte Ergebnis zeigen.

2. Marktforschung
Verheiratete Frauen sind die Hauptzielgruppe einer technisch anspruchsvollen, aber nicht sehr modischen Digitaluhr. Das ergab eine (reale) soziodemografische Analyse auf Basis eines in einem Magazin geschalteten Preisausschreibens. Doch an dem nahmen – ohne Bezug zur Digitaluhr – hauptsächlich Frauen und Mütter teil, die über genug Tagesfreizeit zum Ausfüllen von Preisausschreiben verfügten, so der Autor. Akademische Zielgruppenanalysen seien daher meist nur Zufallsergebnisse.

3. Soziodemografie
Brite, männlich, 66 Jahre, geschieden, über eine Million Pfund Jahreseinkommen – diese Beschreibung trifft auf Prince Charles ebenso zu wie auf den Rocksänger Ozzy Osbourne. Soziodemografische Analysen, wie sie an der Uni gelehrt werden, sagen nichts über die Realität aus, meint Hilbig. Gleiches gelte für die derzeit aktuellen Sinus-Milieus, weil Menschen je nach Umfeld anders agierten. Der fußballbegeisterte Vorstand müsse im Managermagazin als Vorstand angesprochen werden, auf dem Fußballplatz gern auch im Spielerjargon. Um das zu wissen, brauche man kein Sinus-Milieu.

4. Mediaanalyse
Laut deutscher Mediaanalyse geht ein Exemplar der „Bild“-Zeitung durch die Hände dreier Leser. Eine Ausgabe von „Ein Herz für Tiere“ hat 24,2 Leser, eine der „ADAC Motorwelt“ nur einen. Könnte man diesen Werten trauen, müsste der Verlag von „Ein Herz für Tiere“ leichtes Spiel haben, seinen Lesern Abos zu verkaufen, meint Hilbig. Doch der Verlag scheint der Mediaanalyse selbst nicht zu trauen.

5. Neuromarketing
Beliebige populärwissenschaftliche Erkenntnisse aus der angewandten Psychologie werden miteinander in Beziehung gesetzt und grafisch überzeugend dargestellt. Ziel sei immer, die Effizienz einer Kampagne im Voraus zu argumentieren. Purer Marketing-Voodoo, meint Hilbig. Mit realem Käuferverhalten habe das nichts zu tun. Das ließe sich nie vorhersagen.

6. Kreativität verkauft
Bringt kreative Werbung wirklich mehr Umsatz? Oder wollen sich die Agenturen nur gegenseitig mit Kreativpreisen übertrumpfen? Hilbig argumentiert mit der guten, alten (und bis heute an jeder Uni gelehrten) Aida-Formel: Attention, Interest, Desire, Action. Agenturen fühlten sich für das Erregen der Aufmerksamkeit (Attention) zuständig, nicht aber für die weiteren Schritte der Kette – und schon gar nicht für das Auslösen des Kaufimpulses (Action).

7. Globale Skaleneffekte
„Unsere Agentur gehört einem weltumspannenden Netzwerk an.“ Davon hat der Kunde nichts, meint Hilbig. Im schlimmsten Fall muss er auf die Verfügbarkeit des britischen Spezialisten warten, telefoniert mit dem indischen Call Center und bekommt schlecht übersetzte Textvorschläge. Nur im eigenen Land lebende Menschen könnten wirklich wissen, wie die Konsumenten dort ticken.

8. Social-Media-Mythen

Facebook-Kampagnen verbreiten sich praktisch von selbst. So klingt jedenfalls die Theorie. Das Gegenteil ist der Fall, sagt Hilbig. Social-Media-Präsenzen benötigten hohe Anfangsinvestitionen, eine qualifizierte Internet-Redaktion und gehöriges (und damit teures) Anschieben durch professionelle Internetagenturen. Jedem Durchbruch stünden hunderte Flops gegenüber. Doch über die wird nicht gesprochen.

9. Expertenwissen
Seit Facebook, Twitter & Co. tummeln sich unzählige Experten im Markt, die den Erfolg einer Kampagne, das Empfehlungsverhalten für ein Produkt oder einen Shitstorm prognostizieren wollen. Bei aller wissenschaftlichen Untermauerung: Niemand kann das seriös vorhersehen, sagt Hilbig. Das Verhalten des Schwarmes sei so unberechenbar, dass es sich durch kein Analysetool abbilden ließe. Eher solle man hinterfragen, woher das vorgebliche Expertenwissen stamme. Denn jeder Experte könne seiner eigenen Praxis entsprechend nur einen kleinen Ausschnitt der Social-Media-Realität kennen.

10. Frag den Hausverstand
Werbe- und Marketingverantwortliche sollten mehr auf ihre Intuition hören und nicht alles glauben, was in der Theorie gut klingt, schließt der Autor. Er empfiehlt, bei externen Empfehlungen immer kritisch das Eigeninteresse des Empfehlers zu hinterfragen. Interessant nur, dass Hilbig mit der Gründung seiner eigenen Marketingagentur selbst auf die Seite derer wechselt, denen er das Verdrehen der reinen Lehre unterstellt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.03.2014)

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