Geldpolitik: Wie das Gespenst der Deflation nicht zu vertreiben ist

GERMANY URBAN
GERMANY URBAN APA/EPA/BORIS ROESSLER
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Sind noch niedrigere langfristige Zinssätze tatsächlich eine Lösung? Wahrscheinlich nicht, meinen zwei deutsche Ökonomen.

Da die Inflationsrate in der Eurozone zurzeit hartnäckig niedrig bleibt, wird der Druck auf die EZB immer größer, "doch irgendetwas" zur Stimulierung der Volkswirtschaft zu tun, um das Gespenst der Deflation zu vertreiben. Der Großteil der aktuellen Vorschläge, die derzeit auch von der EZB geprüft werden, sind Varianten von Wertpapierkäufen, mit dem Ziel die Zinsen in der Eurozone weiter zu drücken.

Die kurzfristigen Zinssätze liegen mittlerweile für die meisten Wertpapiere niedrigen Risikos schon nahe Null. Selbst die italienische und die spanische Regierung können sich mittlerweile für Laufzeiten von bis zu zwei Jahren zu einem Zinssatz von weniger als einem Prozent refinanzieren. Die einzigen Zinssätze, die noch Spielraum nach unten haben, sind folglich die Zinssätze am langen Ende. Aber sind noch niedrigere langfristige Zinssätze tatsächlich eine Lösung? Wahrscheinlich nicht, denn es gibt gute Gründe anzunehmen, dass niedrigere Zinssätze kontraproduktiv sein könnten.

  • Argument 1: Niedrigere Zinsen = Einkommensverlust für Sparer

Zuvorderst verringern fallende Zinssätze den Ertrag für Sparer. Zumindest die deutschen Haushalte, die versuchen, ihr Alterseinkommen durch private Ersparnisse aufzubessern, müssten zusätzlich sparen, um ein bestimmtes Ziel an Zusatzeinkommen zu erreichen. Und noch niedrigere Zinsen zwingen die Lebensversicherungen, ihre Ausschüttungen zu begrenzen. Deshalb dürfte die Verabreichung einer Dosis „Quantitative Easing (QE)", die niedrigere Zinsen in Deutschland zur Folge hat, nicht zu einer höheren gesamtwirtschaftlichen Nachfrage in Deutschland führen.

Aber haben die jüngsten Zahlen nicht gezeigt, dass der Konsum in Deutschland auf Rekordniveau liegt? Das stimmt: der reale Konsum steht auf Rekordniveau, stagniert dort aber schon seit einigen Jahren. Eine Operation QE der EZB hätte das Ziel, ihn kräftig ansteigen zu lassen. Wir zeigen aber, dass auch das Gegenteil der Fall sein könnte.

Natürlich gilt: jedem Sparer steht ein Schuldner gegenüber, dessen Schuldenlast sinkt, wenn die Zinsen fallen. Dieser Zusammenhang gilt aber nur zwingend in einem geschlossenen System.

Beim QE geht es jedoch um die gesamte Eurozone und der Zusammenhang wird vielfältiger. Deutschland ist der größte Nettogläubiger in der Eurozone. Die deutsche Volkswirtschaft erleidet deshalb einen Einkommensverlust, wenn die Zinssätze weiter fallen. Die Schuldner Deutschlands in der Peripherie der Eurozone profitieren dann natürlich von einer geringeren Zinsbelastung. Da die Volkswirtschaften der Peripherie jedoch zurzeit mit Nachdruck Fremdkapitalabbau ("deleveraging") ihrer Unternehmen und Haushalte betreiben, ist es für sie naheliegend, diesen "Windfall" für weitere Schuldenreduktion zu nutzen statt ihre Ausgaben zu erhöhen. Die spanischen Haushalte mit zu hohen Hypotheken gewinnen aber wenig an niedrigeren langfristigen Zinsen weil im Süden die Hypothekenzinsen an sehr kurzfristige Interbanksätze indexiert sind. Außerdem müssen viele überschuldete Haushalte und Unternehmen erst einmal ihre Kredite zurückführen (Deleveraging), bevor sie an neue Ausgaben denken können.

Hierbei handelt es sich jedoch um ein Eurozonen-spezifisches Phänomen. Ein Grund, warum QE in den USA durchaus gewirkt haben könnte, ist ganz einfach, dass die USA der größte Schuldner der Welt sind und die verschiedenen Runden des QE die Zinsbelastung der gesamten Volkswirtschaft reduziert haben. Ausländer halten gegenwärtig US-Anleihen im Wert von ungefähr 7 Billionen USD (zumeist Schatzpapiere). Eine Verringerung der Rendite dieser Papiere um einen Prozentpunkt bringt einen Nettoertrag von ungefähr 0,5 Prozent des BIP. Der Saldo der USA aus dem Einkommen aus Investitionen („investment income balance") gegenüber dem Ausland hat sich in der Tat seit Beginn des QE-Programms um ungefähr 0,7 Prozent des BIP verbessert, obwohl sich die „net foreign investment position" (der Auslandsvermögensstatus) der USA gleichzeitig fortlaufend verschlechterte.

Für die USA bedeuten geringere Zinssätze folglich einen beträchtlichen Einkommenszuwachs. Das Gegenteil hierzu ist für Deutschland der Fall, das eine beträchtliche Nettogläubigerposition innehat. Die "investment income balance" dieses Landes, d.h. die Nettozinserträge je eingesetzter Kapitaleinheit, hat sich über die letzten Jahre kaum verbessert, obwohl die Nettogläubigerposition wegen dauerhaft hoher Leistungsbilanzüberschüsse weiter in die Höhe schoss.

Insgesamt könnten also niedrigere Zinsen einen negativen Einfluss auf die Nachfrage im Euroraum haben. Am Anfang der Währungsunion war dies anders, denn damals gab es noch keine Überschuldung und die Häuserpreise stiegen, während sie heute fallen.

  • Argument 2: Steigende Immobilienpreise

Ein weiterer Grund dafür, dass gemeinhin angenommen wird, dass geringere Zinssätze die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stimulieren, ist ihr Einfluss auf Vermögenspreise, vor allem Immobilienpreise. Auch hier kann das Beispiel der USA, wo dieser Mechanismus funktioniert, leicht in die Irre führen.

Das Schlüsselproblem liegt wiederum in Deutschland. Zwar steigen die Immobilienpreise - aber mit dem Risiko, eine Dämpfung der Nachfrage statt einer Erhöhung zu verursachen. In Deutschland sind nur wenig mehr als 40 Prozent Eigentümer ihrer Wohnstätten. Die Mehrzahl der Haushalte hingegen sieht sich lediglich mit der anderen Seite der Medaille höherer Immobilienpreise, nämlich steigenden Mieten, konfrontiert. Steigende Immobilienpreise bedeuten also für die meisten deutschen Haushalte eine zusätzliche Belastung. Die Nachfrage mag (erst) in ferner Zukunft steigen, wenn genug neue Eigentümer zumindest einen Teil Ihrer Hypotheken abgezahlt haben. Hier geht es aber um den kurzfristigen Effekt.

Da sich der meiste Wohnraum im Eigentum von Finanzinstitutionen, wie beispielsweise Versicherungsunternehmen, befindet, dürfte der höhere Wert des Wohnraumbestands lediglich in einer Ausweitung der Bilanzen dieser Institute aufscheinen. Unter deutschen Standards der Rechnungslegung jedoch wird Wohnraum nicht zu Marktpreisen, sondern zu historischen Kosten bilanziert. Dies ist für diese Finanzinstitutionen günstig, denn ihre Steuerverbindlichkeiten werden so gedrückt. Höhere Immobilienpreise können somit die Nachfrage nicht stimulieren. Im Gegenteil, für die meisten deutschen Haushalte bedeutet ein Anstieg der Immobilienpreise eher eine zusätzliche Belastung als einen Segen.

Darüber ist es im deutschen Finanzsystem sehr viel schwieriger, den Wertanstieg ihrer Immobilie zu extrahieren und direkt für Konsum zu verwerten. In Deutschland sind die Beleihungswerte meist konservativ angesetzt. Außerdem wären die meisten deutschen Banken wohl nicht bereit, zusätzlichen Konsum zu finanzieren, der nicht aus dem laufenden Einkommen heraus finanziert werden kann.

Wie robust sind diese Argumente? Die Eigentumsquote in Deutschland zieht seit drei Jahren im Langfristvergleich in bemerkenswerter Geschwindigkeit an. Viel Sparkapital fließt in die Immobilie, die Zahl an Baugenehmigungen nimmt zu (wenn Sie auch noch nicht frühere Niveaus erreicht hat). Dies sind aber klassische Investitionen in die Binnenwirtschaft - Handwerk, etc. Könnte das nicht auch eine Stimulanz im Sinne der Notenbanker sein? Nur bedingt! Die Eigentumsquote steigt zwar an, ist aber immer noch im europäischen Vergleich auf einem sehr niedrigen Niveau und es würde noch Jahre brauchen bis sich dies ändert. Es kommt aber auf die heutige Quote an, wenn man eine QE-Operation der EZB heute analysieren möchte. Dass die Baugenehmigungen zunehmen, ist ganz im Sinne der EZB, es fragt sich aber, ob QE diese Tendenz verstärken würde oder nicht (obwohl dies natürlich in Einzelfällen durchaus vorkommt).

  • Argument 3: Niedrigere Zinsen stimulieren die Investitionsnachfrage nur sehr bedingt

Geringere Zinsen erhöhen in der Theorie die Investitionsnachfrage von Unternehmen. Nahezu alle ökonomischen Modelle unterstellen dies. Aber eine große Mehrheit empirischer Studien findet, dass Zinssätze allenfalls einen marginalen Einfluss auf Investitionen haben und andere Faktoren jedweden marginalen Zinseffekt dominieren. Insoweit vom QE zinssenkende Effekte erwartet werden, dürften diese die Investitionen kaum stimulieren. Diese „anderen" Faktoren dürften zukünftig vor allem die Unsicherheit über künftige Politik (insbesondere über einen glatten Ausstieg aus der unkonventionellen Geldpolitik und deren Nebeneffekte) und Markteingriffe wie die Einführung von Mindestlöhnen und die Bindung von Staatsanleiherenditen an Notenbankinterventionen sein. Übrigens: eine Position, die Mindestlöhne in Deutschland zur Steigerung der dortigen Binnennachfrage und gleichzeitig für ein QE in der Eurozone plädiert, ist zudem klar inkonsistent.

In Europa finanzieren sich aber Unternehmen eher durch Bankkredite, die typischerweise kurz- bis mittelfristig sind. Niedrigere langfristige Zinsen bringen also für Unternehmen wenig.

  • Argument 4: Auch der Wechselkurseffekt spricht nicht für eine Konjunkturstimulierung

Es wird häufig vorgebracht, die Gesundung des Euro-Gebiets hänge ganz massiv davon ab, dass man eine starke Aufwertung des Euro verhindern könne. Eine zinsinduzierte Abwertung sollte nach Lehrbuch in der Tat die Konjunktur fördern. Wir würden aber argumentieren, dass der Zusammenhang zwischen langfristigen Zinsen und Wechselkurs und erst recht der Einfluss des Wechselkurses auf die Konjunktur (Hysterese-Effekte) nicht sehr eng ist (Belke und Göcke, 2005, Belke, Göcke und Günther, 2013).

Negative Einlagenzinsen hätten wohl einen stärkeren Einfluss auf den Wechselkurs als ein QE. Nicht umsonst spielt sich ein Großteil der Debatte um den Fed-Exit im Rahmen des „Interest Rate Puzzle" des Wechselkurses ab - nämlich dass seit geraumer Zeit der Dollar-Euro-Wechselkurs überhaupt nicht den Erwartungen wachsender Zinsdifferenzen dies- und jenseits des Atlantiks entspricht. Im Gegenteil, danach wertet der Euro unzulässig auf. Als Hilfsargument wird von den „Märkten", die vehement das QE für die Eurozone fordern, eingeschoben, dies liege an der stärkeren Verkürzung der Notenbankbilanz der EZB als derjenigen der Fed, ist empirisch keinesfalls robust abgesichert.

Die Wechselkurs-Schmerzgrenzen sind unserer Forschung zufolge stark zeitvariabel. Es lässt sich zeigen, dass seit Beginn der Eurozone Wechselkurse von 1,20, 1,30, 1,40 und 1,50 - je nach vorhergehendem Wechselkurspfad - von den Lobbygruppen als „Pain Threshold" bezeichnet wurden. Gerade für Deutschland, dem ja eine besondere Rolle als Wachstumsmotor in der Eurozone zukommen soll, ist die Wechselkurselastizität der Exporte und der Konjunktur besonders gering.

Fazit

Insgesamt gesehen, dürften ein QE oder andere Wertpapierkäufe der EZB einen negativen Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage in Deutschland haben und, wenn überhaupt, zu einem marginal positiven Einfluss in der Eurozonen-Peripherie führen. Das Wieder-Austarieren („rebalancing") der Eurozone würde damit weiter erschwert. Dasselbe gilt für einen gezielten Kauf von spezifischen Kreditbündeln, um die Kreditvergabe an kleine und mittlere Unternehmen zu fördern („targeted facility"). Eine solche Maßnahme wäre in Deutschland überflüssig. Das Schlüsselproblem der Eurozone bleibt eine schwache Binnennachfrage in Deutschland und anderen nordeuropäischen Ländern mit Leistungsbilanzüberschüssen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass genau dieses Problem durch die derzeit unisono empfohlenen expansiven geldpolitischen Schritte eher noch verstärkt wird.

Da die Effekte des QE für den Norden und Süden der Eurozone nicht symmetrisch sind, geht der Vorschlag eines (gewichteten) Ankaufs von Staatsanleihen aller Eurostaaten nicht über den bisherigen Status länderspezifischer Käufe (SMP und OMT) hinaus. Er kommt nur unter anderem Gewand daher.

Die EZB sollte deshalb der Versuchung widerstehen, die Deflationsgefahr durch QE zu bekämpfen. Was in den USA oder in Großbritannien geklappt haben mag, wird in der Eurozone nicht funktionieren. Ja, die EZB sollte eine allgemeine Deflation verhindern, aber Quantitative Easing könnte die Lage noch verschlimmern.

Wenn unsere These zutrifft, sollte QE eher zu schwächerer Nachfrage und noch weniger Inflationsdruck führen. Mit der Konsequenz, dass die EZB ihre Dosis von QE erhöhen wird. Führt dies wiederum zu schwächer Nachfrage, entsteht eine Deflationsspirale.

Die Autoren

Ansgar Belke ist Inhaber des ad Personam Jean Monnet-Lehrstuhls für Makroökonomik an der Uni Duisburg-Essen, Mitglied des Monetary Experts Panels im Europa-Parlament, Brüssel, und Research Fellow am IZA Bonn.

Daniel Gros is Direktor des Center for European Policy Studies in Brüssel.

Kooperation

Dieser Artikel wurde für "Ökonomenstimme", die Internetplattform für Ökonomen im deutschsprachigen Raum, erstellt. Die Presse ist exklusiver Medienpartner der Ökonomenstimme.

Literatur

Belke, A., Göcke, M. (2005): Real Options Effects on Employment: Does Exchange Rate Uncertainty Matter for Aggregation?, in: German Economic Review, Vol. 6/2, S. 185-203.

Belke, A., Göcke, M., Günther, M. (2013): Exchange Rate Bands of Inaction and Play-Hysteresis in German Exports - Sectoral Evidence for Some OECD Destinations, in: Metroeconomica, Vol. 64/1, S. 152-179.

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