Theologe Hünermann: „Der Sünder wird heiliggesprochen“

A monument of the late Pope John Paul II stands in Czestochowa, southern Poland
A monument of the late Pope John Paul II stands in Czestochowa, southern Poland(c) REUTERS (KACPER PEMPEL)
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Der Tübinger Theologe Peter Hünermann im Gespräch über Heiligkeit – und deren Vereinbarkeit mit einem Sündenfall der Kandidaten.

Die Presse: Was ist Heiligkeit? Muss einer, um heilig zu werden oder zu sein, den ganzen Tag lang beten?

Peter Hünermann: Nein, so starre Muster gibt's nicht. Aber Vorbilder sollten die Heiligen schon sein. Genauso wie die Bischöfe, die Hirten der Kirche. Das sagt schon Paulus ganz selbstverständlich im Neuen Testament: Richtet euch an meinem Lebensstil aus, daran, wie ich zu Christus stehe! Menschen orientieren sich immer an Autoritäten, bei den Kindern angefangen, die sich an den Eltern orientieren. Und in ihren zweitausend Jahren hat die Kirche ganz verschiedenartige Menschen heiliggesprochen. Je nach der geschichtlichen Situation, nach dem religionspädagogischen Ansatz der Zeit, je nach dem Wirken innerkirchlicher Lobbygruppen wandelt sich der Typ von Heiligen. Auch sind immer wieder politische Einflussnahmen und Entscheidungen mit im Spiel. Oder das Drängen von einzelnen Orten oder Ländern, die alle ihren Spezialheiligen wollen. Auch Auswüchse gab es – die Herstellung und Verbreitung von Reliquien zum Beispiel. Und es muss ja einer auch nicht heiliggesprochen werden, damit er heilig ist. Bei der Heiligsprechung geht es vielmehr darum, ob dieser Mensch öffentlich verehrt werden soll.

Aber wie soll ich einen Menschen verehren wie den mittelalterlichen Kaiser Heinrich II., der grausame Kriege gegen die Polen geführt hat und trotzdem heiliggesprochen worden ist?

Kriege waren in jener Zeit fast eine Naturgegebenheit. Karl der Große ist fast jedes Jahr ausgezogen. Heinrich wurde damals als Verteidiger des Glaubens gesehen. Das sind ganz andere Maßstäbe als in der Neuzeit.

Müsste man dann nicht die eine oder andere Heiligsprechung widerrufen?

Ich bin der Meinung, dass man das nicht machen sollte. Weil jeder Mensch in seiner Situation groß wird und nach bestem Wissen und Gewissen und nach den Maßstäben agiert, die ihm zur Verfügung stehen. Für die damalige Zeit hat Heinrich seine Bedeutung gehabt. Und es wird bei den Heiligen sehr deutlich, dass sie sich in ihrer Bedeutung verändern.

Als Menschen sind Heiligkeitskandidaten immer auch Sünder. Inwieweit geht Sünde in die Heiligkeit ein? Spricht man nur den „sauberen“ Teil eines Menschen heilig, beim einen sein Gebetsleben, beim nächsten seinen karitativen Einsatz, und was nicht passt, blendet man aus?

Nein, nein. Heiligsprechung ist immer ein Urteil über eine Gesamtpersönlichkeit. Wir haben große Beispiele dafür: Augustinus, Paulus, bei denen die Bekehrungen immer eine große Rolle gespielt haben in der Art, wie sie als Heilige aufgenommen wurden. Große Menschen haben sich immer dadurch ausgezeichnet, dass sie kritisch gegenüber der eigenen Vergangenheit, der eigenen Person waren, und zugegeben haben, zunächst aus verengter Sichtweise heraus gehandelt und sich im Lauf der Zeit geändert zu haben. So etwas gehört wesentlich mit dazu.

Wenn man einen Menschen heiligspricht, spricht man also auch seine Sünde heilig?

In gewisser Weise ja. Es wird der Sünder heiliggesprochen. Auch das Eingeständnis von Begrenzungen, von Sünden kann für den Menschen ja zum Segen werden.

Es gibt auch Päpste, die auf der Leiter zur Heiligsprechung stehen, aber in ihrer Zeit auch nicht unbedingt das gemacht haben, was die Menschen von ihnen erwarten konnten. Pius XII. zum Beispiel, dem man vorwirft, zur Vernichtung der Juden unter den Nazis geschwiegen zu haben.

Wobei dieser Mann wirklich sehr mit sich gerungen hat, wie er Stellung nehmen sollte zum heraufziehenden Unheil. Im Frühjahr 1939 wurde er zum Papst gewählt, und dann veröffentlichte er gleich eine Enzyklika über die Grundfragen des Völkerrechts. Er sieht, was sich zusammenbraut, er möchte als Papst seine Position klarstellen. Er wählt diesen Weg. Während des Krieges hat er dann vielen Juden geholfen. Sicher, öffentlich hat er nicht protestiert. Aber die holländischen Bischöfe haben das getan – mit der Folge, dass die Gestapo nur umso schärfer gegen die holländischen Juden vorging und alle in die KZ transportierte. Davor hatte Pius natürlich auch Angst, in viel größerem Maßstab. Aber er hat sich sehr stark bemüht, und wenn manche Leute heute meinen, das war kein „heroischer Tugendgrad“ (als Vorstufe zur Seligsprechung, Anm.) – ich bin mir da nicht so sicher.

Ganz andere Bedenken gibt es bei Johannes Paul II. Kritiker sagen, unter seinem Pontifikat sei ein ganzes System an Kindesmissbrauch konsequent vertuscht worden und der Vatikan habe nichts getan, diese Verbrechen zu bekämpfen. Kann man Johannes Paul II. da heiligsprechen?

Ich hoffe, dass man auch diese Frage sehr gründlich geprüft hat. Wenn das nicht der Fall gewesen sein sollte, hielte ich das für einen schweren Fehler. Denn es gibt in seiner Biografie einige kritische Punkte. Als der Kindesmissbrauch durch Hans Hermann Groër hochkochte, der damals Erzbischof von Wien war, machte Johannes Paul II. einen Österreich-Besuch und nahm Groër ausdrücklich in Schutz. Als ich damals seine Ansprache las, habe ich mich gefragt, inwieweit der Papst vor einer solchen Reise einen Blick in die österreichische Presse geworfen hat, wo alle möglichen Sachen behauptet und aufgedeckt wurden. Ich hoffe nur, dass solche Fragen bei dem Heiligsprechungsprozess zur Sprache gekommen sind und dass man auch geklärt hat, wie das Ganze ablief, inwieweit er wirklich informiert war, wer ihm seine Texte geliefert hat und so weiter.

Kann man es andererseits Johannes Paul II. zur persönlichen Heiligkeit anrechnen, dass er – was die Befreiung Osteuropas betrifft – einfach der richtige Mann am richtigen Fleck zur richtigen Zeit war?

Das glaube ich ganz sicher. Schon seine Wahl, das weiß ich aus der Tschechoslowakei, wo die antikirchliche Repression besonders stark war, war eine Ermutigung für viele und ein ganz wesentlicher Faktor dafür, dass die anderen Dinge sehr viel stärker in Bewegung gekommen sind.

Aber das ist ja noch kein persönliches Verdienst Karol Wojtylas.

Aber wie er die Sachen angepackt hat, wie er seine Rolle übernommen hat, das war wichtig. Das hat er gestaltet. Wir finden ja immer irgendeine Situation vor, übernehmen eine Rolle darin und prägen unsere Authentizität darin aus. All das gehört mit dazu.

Also kann man Heiligkeit auch durch Geschichtsverlauf als erwiesen betrachten?

Ja. Meiner Ansicht nach ist das ein starkes Zeichen.

Ist eine Heiligsprechung ein unfehlbarer Akt?

Nein, meine ich nicht. Gut, es wird die öffentliche Verehrung gestattet, das ist natürlich eine Frage, die den Glauben berührt. Aber hier von Unfehlbarkeit zu reden... Ich kann nur sagen: Die Barmherzigkeit Gottes ist groß (lacht). Aber für uns alle, die wir Sünder sind.

ZUR PERSON

Peter Hünermann

(* 1929 Berlin) war von 1982 bis 1997 Professor für katholische Dogmatik an der Uni Tübingen. Er gilt nach wie vor als einer der herausragendsten theologischen Denker, nicht nur im deutschen Sprachraum. [ Hünermann Foundation ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.04.2014)

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