"Deutschland von Sinnen" oder ein Buch über den Darm - die Bestseller auf Amazon spiegeln fast in Echtzeit momentane Kauftendenzen wider. Wie genau sie die Listen errechnet, hält die Firma geheim, sicher ist: Sie bringen ihr Macht.
Im Darm liegt der Tod, sagte der Arzt Hippokrates anschaulich. Aber man kann so lebendig darüber schreiben, dass ein ganzes Land sich für das Thema begeistert. Zumindest, wenn man Giulia Enders heißt: Das Buch „Darm mit Charme“ der deutschen Medizinstudentin besetzt nun schon seit Wochen Platz eins der Bestsellerliste auf Amazon. Große Medienberichte etwa in der „Bild“-Zeitung und Auftritte in der Talkshow von Markus Lanz haben dazu beigetragen, dass „Darm mit Charme“ auch auf der „Spiegel“-Bestsellerliste Platz eins in der Kategorie Paperback/Sachbuch ist.
Aber die schnellste Bestätigung des aufflammenden Interesses war doch der Höhenflug des Buchs auf Amazon. Ebenso sagte das Amazon-Bestseller-Ranking auch den Hype um Akif Pirinçcis umstrittenes Buch „Deutschland von Sinnen. Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“ quasi voraus, freilich ohne dass es groß bemerkt wurde: Schon vier Wochen bevor das Buch des bekannten Krimiautors erschien, fand es sich auf Platz vier im Gesamtbüchersortiment. Anders als traditionelle Bestsellerlisten berücksichtigt jene auf Amazon nämlich auch die Vorbestellungen noch unveröffentlichter Bücher.
Stündlich aktualisiert
Schon immer waren viele Bestseller sprichwörtliche Eintagsfliegen. Aber so sehr wie auf Amazon waren sie es noch nie. „Hier sind Fluktuationen wesentlich größer, da können relativ minimale Verkäufe an einem Tag schon einen großen Sprung nach vorn bedeuten“, sagt der Wien-Korrespondent der deutschen Branchenzeitschrift „Buchreport“, Rüdiger Wischenbart, der „Presse“.
Denn während etwa die „Spiegel“-Bestsellerliste ihr Ranking auf Grundlage der wöchentlichen Verkaufszahlen von 450 repräsentativen Buchhandlungen in ganz Deutschland errechnen lässt, werden die Listen auf Amazon stündlich aktualisiert – zumindest für die Ränge eins bis 10.000. Amazon gibt keine Details darüber preis, wie die Listen errechnet werden, so ist auch nicht bekannt, welchen Zeitraum die Computer für ihre Analyse berücksichtigen, angenommen wird ein Wert zwischen den letzten zwölf und den letzten 24 Stunden. Würden die Bestsellerlisten von Amazon allerdings ausschließlich auf dieser kurzen Zeitspanne basieren, würden sie wohl sehr merkwürdig aussehen. Auch ältere Verkäufe fließen sicher in den Algorithmus ein, allerdings werden sie offenbar geringer gewichtet.
Der Grund, warum die Firma keine Einzelheiten darüber verrät, wie sie ihre Listen erstellt, ist klar: Jedes Wissen über die Bewegungen auf dem Buchmarkt bringt Macht, die Amazon sich hüten wird, mit anderen Marktteilnehmern wie etwa Verlagen zu teilen. „Wenn man diese Bewegungen konsequent betrachtet“, sagt Wischenbart, „kann man die Dynamiken auf dem Markt viel genauer durchschauen, sehen, was eine Rezension ausmacht, ein Auftritt im Fernsehen ... Die Kurzfristigkeit, die man an diesen Listen beklagt, ist auch ihre Stärke, zumindest, wenn man ernsthafte Marktforschung betreibt.“
Seit Längerem entwickelt Amazon auch immer mehr Bestsellerunterkategorien, sodass eine Unzahl an Bestsellern entsteht. Pirinçcis Buch etwa wird aktuell auf Amazon.de zwar „nur“ als Nummer drei im gesamten Büchersortiment ausgeschildert, aber auf Platz eins in der Kategorie „Deutsche Politik“. Das werde dem Konsumverhalten gerecht, meint Wischenbart. „Man hat in den letzten Jahren deutlich gesehen, dass sich das Publikum spezialisiert und oft speziell nur in einem Segment sucht.“
Und noch etwas unterscheidet die Amazon-Listen deutlich von denen traditioneller Bestsellerlisten: Sie berücksichtigen alle vorhandenen Titel, während etwa die „Spiegel“-Liste keine in Selbstverlagen erschienenen Bücher aufnimmt. Außerdem addieren sie E-Books und gedruckte Exemplare.
Rätseln um absolute Verkaufszahlen
Welche Rückschlüsse lassen sich vom Amazon-Rang auf die absoluten Verkaufszahlen ziehen? Darüber wurde erst kürzlich in Amerika erbittert diskutiert, nachdem der Science-Fiction-Autor Hugh Howey das Verhältnis zwischen den Verkaufsrängen seiner Bücher und den absoluten Verkaufszahlen analysiert hatte. Daraus zog er Rückschlüsse auf die Verkaufszahlen anderer Bücher. In den besonders erfolgreichen Genres Science-Fiction, Thriller und Liebesgeschichten, folgerte er, seien die selbst verlegten Bücher den in Verlagen publizierten überlegen; und würden die Verlage weniger Geld für die Bücher verlangen, dann würden die Autoren mehr verdienen. „Im deutschen Sprachraum hat noch keiner versucht, die Daten auf breiter Ebene durchzurechnen und nachzuvollziehen“, sagt Wischenbart.
Für den Buchmarktexperten lassen sich aus den Amazon-Rankings trotzdem zwei zentrale Botschaften ablesen: „Erstens wird die Frage der Preisgestaltung gerade von E-Books zum kritischen Parameter.“ Bei Amazon gäbe es sehr viele billige Titel, ihre Präsenz und ihr Erfolg bringe die Buchpreisbindung unter Druck. Und zweitens sieht Wischenbart die Listen als Teil der Amazon-Strategie, „einen eigenen Markt zu machen, der völlig abgehoben vom restlichen Buchmarkt ist: ein ganzes Buchuniversum aus eigenen Mitteln“.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2014)