Gastkommentar

Wollen wir eine zweigeteilte EU?

Warum es höchste Zeit für den Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens ist. Das Nein füttert nur Anti-EU-Propaganda!

Als jemand, der im Kommunismus aufgewachsen ist, erinnere ich mich daran, wie der Fall der Berliner Mauer für viele Osteuropäer zum Symbol für Freiheit und Einheit wurde. Mit dem Beitritt zur Nato und der EU ging ein lang ersehnter Traum in Erfüllung: endlich mit Europa vereint zu sein. Aber der Ausschluss gewisser Mitgliedstaaten vom Schengener Abkommen untergräbt die Grundprinzipien der EU und erklärt einige EU-Bürger zu Bürgern zweiter Klasse.

Ein Vorbehalt, der oft angeführt wird, ist die Furcht, dass Staatsbürger der neuen Mitgliedstaaten die Sozialsysteme anderer Mitgliedstaaten ausnutzen. Dabei handelt es sich um Einzelfälle und nicht um die breite Gesellschaft. Der gesetzliche Rahmen, um Missbrauch zu verhindern, soll und muss geschaffen werden.

Ein weiteres Argument gegen den Schengen-Beitritt ist, dass in dicht besiedelten Regionen das Problem leistbaren Wohnens verschärft würde. Hier gilt es festzuhalten, dass Schengen die Personen- und Arbeitnehmerfreizügigkeit erlaubt und nicht für Massenumsiedlungen steht. 

Jüngste Abstimmungen im Europäischen Parlament unterstreichen die Dringlichkeit des Themas. Mit überwältigender Mehrheit haben die Mitglieder des Europäischen Parlaments für einen Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens bis Ende 2023 gestimmt. Beide Staaten erfüllen seit Jahren die erforderlichen Kriterien, und wir verstehen die Entscheidung mancher Länder nicht, einen Beitritt ohne jegliche gesetzliche Begründung abzulehnen. Dieser Ausschluss ist nicht nur symbolisch – er bedeutet auch reale Kosten für Unternehmen und EU-Bürger und befeuert soziale und wirtschaftliche Ungleichheit.

Reisen und Handel können beispielsweise stunden-, aber auch tagelang unterbrochen werden, während die Wartezeit im Schengen-Raum durchschnittlich zehn Minuten beträgt. Das wirkt sich auf den Lebensunterhalt von Fernkraftfahrern negativ aus und erhöht den CO2-Ausstoß um unglaubliche 46.000 Tonnen pro Jahr. Um ehrlich zu sein: Dieser Ausschluss füttert doch nur Anti-EU-Propaganda.

Es gibt berechtigte Fragen, ob bestimmte Länder ihre Grenzen effektiv managen können, besonders wenn es um Asylwerber geht und den Kampf gegen Korruption. Aber diese Fragen betreffen nicht nur ein, zwei Länder. An den bisherigen Migrationszahlen sehen wir, dass kein Land allein damit fertig werden kann.

Gemeinsamer Grenzschutz

Die gute Nachricht aber ist: Europa verfügt hier über Expertise, zu helfen. Bei der Kooperation und Zusammenführung in Sachen Grenzschutz können wir unsere Bereitschaft erhöhen – überall dort, wo die EU Außengrenzen hat. Mehr Trainings, gemeinsame Technologie und gemeinsame Operationen können die Kapazitäten wesentlich erhöhen. Hier geht es nicht nur um Lücken bei der Durchführung, sondern auch darum, ein gemeinsames Instrument im Kampf gegen Korruption und Schmuggel zu haben – Probleme, die nicht nur Bulgarien oder Rumänien haben, sondern europaweit vorkommen.

Schengen ist übrigens nicht nur ein politisches Thema, es ist auch ein menschliches. Es geht um Studierende, die im Ausland studieren wollen, Unternehmer oder Arbeitnehmer, die neue Möglichkeiten suchen, und um Familien, die frei reisen wollen. Die Frage ist, ob wir eine zweigeteilte EU wollen oder eine geeinte Gesellschaft. Die Grundprinzipien der EU – Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit – rufen uns zum Handeln auf.

Die Zeit läuft. Wir sind es uns selbst und zukünftigen Generationen schuldig, dass das europäische Versprechen für Freiheit und Einheit für alle gilt.

Ilhan Kyuchyuk (*1985) ist ein bulgarischer Politiker und Mitglied
des Europäischen Parlaments.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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