Die Menschheitsgeschichte ist eine der Krisen und ihrer Überwindung. Die wichtigen Fragen lauten: Wie widerstandsfähig ist eine Gesellschaft? Hat Europa in den vergangenen zwei Jahrzehnten seine Resilienz verloren? Und was kann die Wissenschaft beitragen, um sie zu erhöhen?
Im Gegensatz zu den Erfolgsgeschichten der europäischen Staaten ist die Liste der Krisen in den vergangenen Jahren beachtlich lang. Wir stecken in einer Energiekrise, Demografiekrise, Migrationskrise, einer Lieferkettenkrise, erleben Inflation und Arbeitskräftemangel, manche sehen eine Wirtschaftskrise samt Finanzkrise am Horizont, viele hängen in einer Motivationskrise, wir können die Bildungskrise nicht mehr leugnen, genauso wenig wie die Gesundheitssystemkrise, eine Verwaltungs- und Managementkrise und damit zusammenhängend eine Vertrauenskrise in die Demokratie, erstmals Versorgungskrisen und natürlich die Informationskrise – schließlich scheinen wir immer weniger unterscheiden zu können, was wahr ist und was nicht. Und ich rede noch nicht einmal von der Klimakrise oder dem Krieg in Europa.
Ein suboptimaler Zustand für alle Verantwortlichen: wo anfangen, diese Krisen zu lösen? Wie kommt man überhaupt zu Lösungen? Oder sollen wir einfach weitermachen wie bisher und hoffen, dass alles von selbst vorbeigeht? Lügen und behaupten, es sei alles unter Kontrolle, und darauf bauen, dass niemand allzu früh bemerkt, dass dem gar nicht so ist? Oder wenn alles nichts hilft: Wo findet man Sündenböcke, denen man die Schuld aufhalsen könnte? Wer hat eigentlich all diese Krisen ausgelöst, warum treffen sie jetzt alle quasi gleichzeitig ein?
Natürlich erleben wir die Folgen der geopolitischen Neuaufteilung der Welt und ihrer Ressourcen; Europa kann nicht mehr so leicht mitnaschen wie in den vergangenen 500 Jahren. Die Bevölkerung Afrikas wird sich in den nächsten 75 Jahren vermutlich vervierfachen, Regionen Asiens noch um 25 Prozent wachsen, sodass Europa bevölkerungsmäßig kaum noch eine Rolle spielen wird. Wir erleben das nahende Ende des Kapitalismus – mitverantwortet von der sich mehr und mehr etablierenden monopolistischen Ökonomie der Techkonzerne. Und natürlich sind die Linkslinken bzw. die Rechtsrechten schuld, die die Staaten vorsätzlich zugrunde richten, um selbst daran zu profitieren (Scherz!).
Ob diese Erklärungen nun zutreffen oder nicht, sie helfen kaum, Lösungsansätze zu entwickeln, weil die dahinterliegenden Trends zu mächtig und global sind und darum kaum steuer- oder umkehrbar. Die Menschheitsgeschichte ist eine der Krisen und ihrer Überwindung. In komplexen dynamischen Gesellschaften sind Krisen vermutlich unvermeidbar und müssen eintreten. Die interessantere Frage, die nicht von globalen Trends abhängt, ist: Wie widerstandsfähig ist eine spezielle Gesellschaft? Hat Europa in den vergangenen zwei Jahrzehnten seine Resilienz verloren?
Was ist Resilienz? Meist wird das Wort verwendet, wenn man „robust“ oder „stabil“ meint, andere nutzen es, wenn sie ausdrücken wollen, etwas sei „effizient“. Resilienz bedeutet aber mehr: Wenn die Funktionalität eines Systems durch einen äußeren Einfluss, etwa einen Schock, reduziert wird, nach einer gewissen Zeit diese Funktionalität aber wieder zurückkommt, dann ist das System resilient. Das System hat die Fähigkeit zur Selbstheilung.
Man kann die Resilienz von Systemen stärken
In Zeiten von Krisen wäre es also wünschenswert, die Resilienz der wesentlichen Systeme, die unsere Gesellschaft benötigt, zu erhöhen. Wie erhöht man Resilienz? Aus der Biologie weiß man: durch Vielfalt und Redundanz. Redundanz, also Doppelgleisigkeiten im System, steht natürlich im Gegensatz zu Effizienz. Schließen sich die beiden also aus? Auf den ersten Blick: ja. Auf den zweiten Blick: nein. Man kann die Resilienz von Systemen stärken, ohne ihre Effizienz zu verringern und Redundanzen nur minimal und optimal zu erhöhen. Das zeigen einige jüngere Arbeiten aus dem Bereich der Komplexitätsforschung. Kann man also Selbstheilung mit wissenschaftlicher Hilfe fördern?