Humanitäre Katastrophe

Erdbeben in Afghanistan: „Die Lage ist viel schlimmer, als wir uns vorgestellt haben“

Ein Bub weint vor den Trümmern seines zerstörten Hauses in einem Dorf nahe Herat.
Ein Bub weint vor den Trümmern seines zerstörten Hauses in einem Dorf nahe Herat. Reuters / Stringer
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Zwei Tage nach einem der schwersten Erdbeben seit Jahrzehnten mit tausenden Toten gibt es kaum noch Hoffnung, Menschen lebend aus den Trümmern zu retten. Am Montag erschütterte ein neues Erdbeben den Nordwesten des Landes.

Auf dem Video ist eine Hand zu sehen, die den kleinen, verletzten Körper schützt. Vermutlich ist es die Hand der Mutter. Man hört verzweifelte, hektische Rufe, sieht Menschen, die vorsichtig das Baby aus den Trümmern heben. Mit bloßen Händen gruben Angehörige und Nachbarn in einem Dorf im Nordwesten Afghanistans nach dem Kind und seiner Mutter. Das Baby hat es geschafft. Ob die Mutter überlebt hat, ist nicht klar.

Die Rettung des Kindes ist ein kleines Wunder inmitten der immensen Tragödie, die das bitterarme Afghanistan derzeit lebt. Zwei Tage nach einem der schwersten Erdbeben seit Jahrzehnten gibt es kaum noch Hoffnung, Menschen lebend aus den Trümmern zu retten. Und am Montag bebte die Erde erneut: Das Epizentrum sei 33 Kilometer nordwestlich der Provinzhauptstadt Herat gelegen, teilte die US-Erdbebenwarte USGS mit.

Die in Kabul regierenden Taliban sprechen von mehr als 2400 Toten und weiteren Tausenden Verletzten, doch die Opferzahl steigt stetig. Und die Dunkelziffer dürfte enorm sein: Viele entlegene Regionen sind von der Außenwelt abgeschnitten, Helfer konnten diese noch gar nicht erreichen.

Nur ein einziges Spital in Herat

Nordwestlich der Provinzhauptstadt Herat seien ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht worden, sagten Augenzeugen. Nach Jahrzehnten voller Konflikte sind viele Dörfer mit einfacher Bauweise schlecht gegen Erdbeben gerüstet.

Retter zeichnen daher ein düsteres Bild:  „Die Lage ist noch viel schlimmer, als wir uns vorgestellt hatten“, sagt Thamindri de Silva, Bürochef der Hilfsorganisation World Vision Afghanistan. Aus Kabul seien zwar zahlreiche Helfer in die getroffene Region geschickt worden, doch „es gibt nur ein einziges Spital in Herat und das ist überfüllt. Viele Patienten mit schweren Verletzungen mussten in private Einrichtungen gebracht werden.“

In den zerstörten Dörfern fehle es an allem: Menschen bräuchten medizinische Hilfe, Wasser, Nahrungsmittel, Decken Kleider, Unterkünfte.

Taliban haben Land weiter isoliert

Die politische Situation verschlimmert die humanitäre Lage: Seit der Rückkehr der radikalislamischen Taliban an die Macht im August 2021 ist Afghanistan weitgehend isoliert, auch dies erschwert die Hilfseinsätze. Viele Organisationen haben das südasiatische Land verlassen, überlebenswichtige Hilfsprogramme wurden 2021 eingestellt.

Zudem ist nach der Machtübernahme der radikalen Islamisten die Wirtschaft vollends eingebrochen, auch als Folge der massiven Repression gegen Privatunternehmen und Frauen. Erst unlängst warnte die Weltbank erneut, dass das stark von ausländischer Hilfe abhängige Afghanistan eine humanitäre Katastrophe drohe: Viele Familien schafften es nicht mehr, ohne Hilfe zu überleben.   

Erdbeben in Afghanistan Karte; Epizentrum (Stärke 6,3),
Erdbeben in Afghanistan Karte; Epizentrum (Stärke 6,3),APA / Leonie Grassauer

Das Erdbeben vergrößert nun Leid und Misere ums Vielfache: Laut dem UN-Nothilfebüro OCHA sind mehr als 11.000 Menschen von der Katastrophe betroffen. Die Vereinten Nationen gaben am Sonntag fünf Millionen Dollar (4,7 Millionen Euro) Soforthilfe frei und kündigten nach der Abschätzung des Bedarfs einen baldigen Spendenaufruf an. Mehrere UN-Organisationen, etwa das Kinderhilfswerk Unicef, sind bereits im Einsatz, liefern Hygieneartikel, Decken, Winterkleider, Medikamente.

Doch aufgrund der internationalen Isolation haben sich bisher nur wenige Länder öffentlich bereit erklärt, Afghanistan zu unterstützen.

Erdbeben war auch im Iran zu spüren

Samstagfrüh hatten mehrere Erdbeben Bewohner der afghanischen Grenzprovinz nahe dem Iran aufgeschreckt. Innerhalb von nur wenigen Stunden bebte die Erde neun Mal, mehr als ein Dutzend Dörfer wurden weitgehend zerstört. Am stärksten betroffen war der Bezirk Sindadschan, nordwestlich von Herat.

Militär und Rettungsdienste eilten in die Katastrophengebiete. Die beiden schwersten Beben hatten laut der US-Erdbebenwarte USGS eine Stärke von 6,3.

Selbst 300 Kilometer entfernt im Nachbarland Iran wackelten am Samstag Wände und Deckenleuchten, wie Bewohner der Millionenmetropole Maschhad erzählten. Auch dort setzten die Behörden Rettungsdienste in Alarmbereitschaft und schickten Teams an die Grenze, um mögliche Schäden zu untersuchen.

Am Montag hat ein weiteres Beben der Stärke 4,9 den Nordwesten des Landes erschüttert. Das Epizentrum lag 33 Kilometer nordwestlich der Provinzhauptstadt Herat, teilte die US-Erdbebenwarte USGS am Montag mit.

Verheerendes Erbeben bereits 2022

Die Beben wecken Erinnerungen an die verheerende Katastrophe im Sommer vergangenen Jahres, als im Osten des Landes bei einem Erdbeben der Stärke 5,9 mehr als 1000 Menschen in den Tod gerissen wurden.

Immer wieder ereignen sich schwere Erdbeben in der Region, besonders am Hindukusch, wo die Indische und die Eurasische Platte aufeinandertreffen. (basta.)

Spenden

Spenden für die Katastrophenhilfe werden dringend benötigt

CARE Österreich Spendenkonto IBAN: AT77 6000 0000 0123 6000 oder online

World Vision: Online-Spendenseite

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