Meine Nostalgie beim Betreten der Plattenbauten verstehen weder deren Bewohnerinnen und Bewohner noch die Westeuropäer. Nova Gorica, Slowenien.
Frankfurter Buchmesse

Vom Garterl bis zum Plattenbau: eine literarische Reise durch Slowenien

Vom Zugfenster aus wirkt Slowenien modern und westlich. Doch es hat auch eine dunkle Seite. Eine Reise – mit Drago Jančar, Aleš Šteger und Maruša Krese im Gepäck.

Man darf es nicht eilig haben, wenn man von Zagreb nach Graz mit dem Zug fährt; für die 148 Kilometer braucht man vier Stunden. Vorbei zieht zunächst eine fast balkanisch weite Landschaft, wie ich sie auch aus Rumänien und Litauen kenne, wo einen die „unfrisierte Natur“ (so Tomas Venclova in einem Essay) sogar mitten in Vilnius empfängt. Doch plötzlich bestimmen adrett arrangierte Gärten und klar abgegrenzte Felder das Bild.

Ist das schon Österreich? Aber nein: Vor dem Zugfenster zieht Slowenien vorbei und stürzt mich in heftige Zweifel an meiner These vom „Gläsernen Vorhang“, der auch nach über 30 Jahren den ehemaligen Ostblock und den ehemaligen Westen Europas trennt. Denn in der Landschaft ist der Unterschied zwischen Kroatien und Slowenien viel größer als der zwischen Slowenien und Österreich. Und auf einmal verstehe ich auch die Bewunderung und den Neid, den Slowenien, das sich (neben Nordmazedonien) als einziger Nachfolgestaat ohne die Blessuren des Krieges aus Jugoslawien herauslösen konnte, auf sich gezogen hat: Slowenien galt schon immer als seine modernste und „westlichste“ Teilrepublik.

Slowenien gehört zu den kleinsten Staaten Europas, aber seine Literatur ist bedeutender und vielschichtiger, als der Blick auf die Landkarte vermuten lässt. Diese Bedeutung geht auf eine kurze Phase des Protestantismus zurück, der den durch Riten geprägten und sich Lateinisch artikulierenden Katholizismus in das Terrain der Volkssprache zwang.

Die Isonzoschlachten in Kobarid

Mein Zug hält in Maribor, Drago Jančars Geburtsstadt, in der „Nordlicht“, „Wenn die Liebe ruht“ oder „Als die Welt entstand“ spielen. Beim Lesen seiner Romane, in deren Fiktion so viel slowenische Geschichte und Lebensrealität eingewoben ist, habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich mich einem Land durch seine Literatur intensiver nähern kann als durch eine physische Begegnung. Und seine Diagnose in dem 2002 auf Deutsch erschienenen Essayband „Brioni“ hat den Grund meines Interesses an den mittelost­europäischen Ländern und ihren Literaturen auf eine Formel gebracht: „Es wird noch lange zweierlei Europa geben. Der Kontinent ist durch die Fraktur der fünfzig Jahre Sozialismus im Osten zweigeteilt. Ohne die Erfahrung Osteuropas kann die Westhälfte des Kontinents das Ganze nicht verstehen.“


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