Interview

SOS Kinderdorf „fassungslos“ über Nehammers Aussagen zu Kinderarmut

Annemarie Schlack
Annemarie SchlackAPA/ Hans Klaus Techt
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Die neue Geschäftsführerin der Hilfsorganisation SOS Kinderdorf, Annemarie Schlack, wirft der Regierung Säumigkeit bei Kinderrechten vor.

Die Hilfsorganisation SOS Kinderdorf wirft der Regierung Säumigkeit bei der Durchsetzung der Kinderrechte vor. „Kinder werden aufgrund ihrer Herkunft oder aufgrund ihrer sozialen Schicht diskriminiert“, kritisiert die neue Geschäftsführerin von SOS Kinderdorf, Annemarie Schlack, und verweist auf den Bildungsbereich und die Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge.

Fassungslos“ zeigt sie sich über die Aussagen von Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) zum Thema Kinderarmut. „Es ist an Zynismus leider schwer zu überbieten“, so Schlack zu dem publik gewordenen Video, in dem Nehammer angezweifelt hatte, dass Kinder in Österreich aufgrund von Armut keine warme Mahlzeit erhielten. Das zeige Unverständnis über die Situation, in der sich Familien in Österreich befinden, die überlegen müssten, ob sie ihr Kind zum Schulausflug schicken oder die Heizung bezahlen, so Schlack. Bei SOS Kinderdorf und dessen Telefonhilfe Rat auf Draht sehe man, dass die Zahl der Familien und Kinder und Jugendlichen, die Unterstützung benötigt, aktuell „explodiert“.

Reform des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes gefordert

Um der Kinderarmut zu begegnen, fordert Schlack eine Reform des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes. Eine weitere Baustelle sei das Bildungssystem. Für armutsbetroffene Kinder sei eine höhere Bildung kaum erreichbar, kritisiert Schlack. Eine ganze Generation von Kindern, die in Armut aufwachse, bekomme dadurch auch keine Chance, aus dieser jemals herauszukommen. Armutsbetroffenen Kindern zu Schulbeginn eine Schultasche zu schenken, sei „Augenauswischerei“, kritisiert sie. Statt Almosen brauche es strukturelle Reformen, um das Schulsystem gerechter zu machen. Nachhilfestunden, die aktuell bei 38 Euro anfangen würden, seien für Armutsbetroffene nicht leistbar.

Zugleich sei mehr Unterstützung der armutsgefährdeten Familien nötig, fordert die designierte Geschäftsführerin von SOS Kinderdorf. Die Teuerung und die prekäre finanzielle Lage führe oft dazu, dass Familien auseinanderbrechen. Hier gebe es zu wenig Mittel für Präventionsarbeit. Denn mit frühzeitigen mobilen Familienberatungen könnten viele Fremdunterbringungen von Kindern und Jugendlichen verhindert werden.

Dringenden Handlungsbedarf sieht Schlack auch beim Thema mentale Gesundheit für Kinder und Jugendliche. Nach wie vor gebe es viel zu wenig Kassenplätze für Psychotherapie und zu wenig Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter an den Schulen.

Für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge fordert die Hilfsorganisation eine Obsorge durch die Kinder- und Jugendhilfe so schnell wie möglich. Es gebe „keine Entschuldigung für die Regierung, hier säumig zu sein“, kritisiert Schlack. Denn es sei kinderrechtswidrig, dass Kinder und Jugendliche, die ohne Vertrauensperson nach Österreich kommen, in nicht kindgerechten Erstversorgungszentren wie Traiskirchen untergebracht würden und dort ausharren müssten. Wenn etwas ähnliches einem österreichischen Kind passieren würde, gäbe es einen Aufschrei, „aber nur weil diese Kinder jetzt nicht österreichische Staatsbürger sind, ist das jetzt okay?“.

Kritik übt SOS Kinderdorf auch an der Fragmentierung der Kinder- und Jugendhilfe. Wie befürchtet sei dies die Folge der Übertragung der alleinigen Kompetenzen der Kinder- und Jugendhilfe an die Bundesländer im Jahr 2019. In jedem Bundesland gebe es nun andere Tagsätze für Kinder und Jugendliche in Fremdbetreuung. „Es kann mir niemand erklären, warum ein Kind in Wien anders viel wert sein soll als ein Kind in der Steiermark“, kritisiert Schlack, die am 1. Jänner 2024 offiziell die Stelle als Geschäftsführerin von SOS Kinderdorf gemeinsam mit den bisherigen Geschäftsführern Christian Moser und Nora Deinhammer übernimmt. (APA)

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