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Ich wollte auf dem Friedhof schlafen und entdeckte Leopold Wölflings Grab

<strong>Von den unter der Erde Schlafenden </strong>weiß ich, dass sie mich in Ruhe lassen werden.
Von den unter der Erde Schlafenden weiß ich, dass sie mich in Ruhe lassen werden. Foto: Katja Hoffmann/Picturedesk
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Der Mann fragte mich, ob er sich kurz zu mir setzen könne. Ich stimmte zu. Es wäre auch seltsam, jemandem auf einem Friedhof einen Sitzplatz abzuschlagen.

In den vergangenen Jahren habe ich mir angewöhnt, zumindest an sonnigen ­Tagen, meinen streng einzuhaltenden Nachmittagsschlaf auf Friedhöfen zu nehmen. Meist spaziere ich über das jeweilige Gelände und suche mir eine etwas abseits stehende Bank oder ein schattiges Plätzchen unter einem Lebensbaum. Dort döse ich schnell ein. Es braucht nur wenige Minuten Schlaf, und schon bin ich wieder bereit für die schnellen Strömungen der Stadt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich damit gegen Sittlichkeiten verstoße oder nicht, es ist nur so, dass ich woanders gar nicht mehr einschlafen kann. Im städtischen Trubel vermag ich nur zwischen den Gräbern die ­nötige Ruhe zu finden.

Der französische Philosoph Jean Baudrillard (der auf dem Friedhof Montparnasse in Paris ruht) hat einmal geschrieben, dass es in der modernen Stadt keinen Friedhof mehr gebe, weil die Straßen selbst von Toten überfüllt wären. Er spielte damit auf eine Kultur an, die das Lebende verdrängt. Ich verstehe ihn, möchte aber bemerken, dass die Friedhöfe mir inzwischen lebendiger vorkommen als die Straßen. Hier gibt es noch zwitschernde Vögel und das Rauschen der Zeit und auch einen Ausdruck menschlicher Gefühle, der anderswo fast vollständig aus dem Alltag verschwindet. Es stimmt schon, manchmal läuft mir ein kleiner Schauer über den Rücken, wenn ich unter denen schlafe, die nie wieder aufwachen. Aber von den unter der Erde Schlafenden weiß ich auch, dass sie mich in Ruhe lassen werden; zumindest ist mir noch nichts Gegenteiliges widerfahren.

»Je mehr Eichhörnchen ich sehe, desto sicherer bin ich, dass der Friedhof auch meinen Bedürfnissen entspricht. «

Als ich mich aber vor einigen Monaten an einem heißen Nachmittag während eines Berlinbesuchs vom stickigen Mehringdamm auf die Friedhöfe am Halleschen Tor, genauer zum „Jerusalems- u. Neue Kirche-Friedhof III“, schleppte, um endlich etwas ausruhen zu können, kam alles anders. Ich bin nicht sehr wählerisch bei Friedhöfen, ich interessiere mich nicht für deren religiöse Hintergründe oder die dort ruhenden Berühmtheiten oder architektonische Besonderheiten. Ich will ja nur schlafen. Meine einzigen Marker, sozusagen die Falstaff-Juroren der Friedhöfe, sind die Eichhörnchen. Je mehr von ihnen ich entdecke, desto sicherer bin ich mir, dass der Friedhof auch meinen Bedürfnissen entspricht. Sie wissen, wo es zu leben lohnt, schließlich sehen sie von den Baumwipfeln aus alles besser, und wer Nüsse im Gelände versteckt, dem vertraue ich sowieso in allen Fragen der Ortskunde.


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