Warum, so frage ich mich, fasziniert mich gerade dieses Foto? Die Antwort ist einfach: Weil mich diese Hände an meinen Vater erinnern, der Zimmermann von Beruf war. Als Kind erschienen sie mir mächtig und riesengroß.
Was für Hände! Sehen Sie diese großen, von Arbeit gezeichneten Hände, die langen Finger, die sich schützend um den Oberkörper des Kindes legen? Die Finger sind nur lose ineinander verschränkt, denn das Gewicht, das sie halten, ist klein. Welch ein Kontrast! Da die abgearbeiteten Hände der Frau, dort die winzigen, zarten Händchen des Kindes. Oft habe ich diese Fotografie aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die mir der Zufall vor Jahren zugetragen hat, angesehen, und immer ist mein Blick zuerst auf die Hände gefallen, auf die großen, und dann auf die kleinen. Sie zogen mich an, sie erschienen mir wie ein sicht- und greifbarer Ausdruck einer langen Lebensgeschichte, die Spuren hinterlassen hat in Haut und Haltung, im Gesicht, am Körper.
Warum gerade diese Aufnahme? Sie hebt sich deutlich ab von retuschierten Atelierbildern, wie wir sie zuhauf in alten Fotoalben finden, allein schon durch ihre Knicke und Kratzer. In den Alben liegen die Bilder geschützt, hier sehen wir meist ganz andere Bilder: fein gekleidete, oft ernste, gelegentlich lächelnde Menschen, die sich sorgfältig hergerichtet haben für den Fotografen. Es sind Konterfeis, die die Sonnenseite der eigenen Existenz festhalten und Mühe, Arbeit und Sorgen ausblenden. Oft wurden diese Sonntagsbilder an den Höhe- oder Wendepunkten des Lebens aufgenommen: etwa zu Hochzeiten, Taufen oder Firmungen. Warum, so frage ich mich, fasziniert mich gerade dieses Foto? Die Antwort ist einfach: Weil mich diese Hände an meinen Vater erinnern, der Zimmermann von Beruf war. Als Kind erschienen sie mir mächtig und riesengroß. In der Werkstatt, auf der Baustelle setzte er seine starken Arme und Hände bei der Holzarbeit ein, in Gesellschaft aber, bei feineren Anlässen mit viel Publikum, wusste er oft nicht so recht, wohin damit. Er war es nicht gewohnt, sie argumentativ gestikulierend oder vornehm elegant einzusetzen, darum ließ er sie oft einfach hängen oder legte sie auf den Knien ab. Atelieraufnahme gibt es von ihm nur eine einzige, das Hochzeitsfoto, es ist ein Brustbild, das die Hände ausspart.
Die Schultern senken sich
Ich krame weitere Bilder aus meinem Fundus und merke, welch unterschiedliche Spuren das Alter in der Fotografie hinterlassen hat. Ich bilde mir ein, dass sich die Schultern der Porträtierten ab einem gewissen Alter ein wenig senken, dass ihr Rücken sich beugt, die Kleidung den schmaler werdenden Körper etwas schlaffer einhüllt. Die Augen liegen tiefer in ihren Höhlen, Falten und Furchen geben dem Gesicht Ernsthaftigkeit und Tiefe, gelegentlich spricht eine verschmitzte Komik aus den Antlitzen. Kleine Details springen ins Auge: die Augenbrauen, die bei manchen Männern im fortgeschrittenen Alter oft wild zu wuchern beginnen, die Bartstoppeln, die nun länger stehen, hie und da die Kopfhaare, die schwerer als früher zu zähmen sind. Auf manchen Fotos verschwindet der Hals zwischen Kopf und Oberkörper. Und warum ist der Mund auf vielen Aufnahmen geschlossen? Weil, so erklärte mir meine Mutter einmal, als sie selbst schon im hohen Alter war, die kariösen, teils schon locker sitzenden Zähne nichts für die große Öffentlichkeit sind.