Eigentlich sollten die sechs Mitglieder der Findungskommission dieser Tage präsentieren, wer die nächste Weltkunstausstellung leiten wird. Nach einer Diskussion um Antisemitismus-Vorwürfe löst sich die Kommission nun selbst auf. Nun ist nicht einmal mehr fix, ob die Documenta 2027 stattfinden kann.
Alle sechs Mitglieder der Findungskommission für die künstlerische Leitung der Weltkunstausstellung Documenta in Kassel sind zurückgetreten. Nach einer Diskussion um Antisemitismus-Vorwürfe hatten in den vergangenen Tagen bereits zwei Mitglieder die Kommission verlassen. Am Donnerstagabend haben nun die vier verbleibenden Mitglieder ihren Rücktritt erklärt. Die Findungskommission sollte bis Ende 2023 oder Anfang 2024 einen Kurator, eine Kuratorin oder ein Kollektiv für die kommende Ausgabe im Jahr 2027 vorschlagen. Nun soll der Findungsprozess vollständig neu aufgesetzt werden.
Hoskoté wollte sich nicht distanzieren
Ausgelöst wurde die Antisemitismus-Debatte durch den Rücktritt des indischen Schriftstellers und Kurators Ranjit Hoskoté am Montag. Er war in die Kritik geraten, weil er im Jahr 2019 eine Petition mit dem Titel „BDS India“ unterzeichnet hatte. BDS steht für „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“. Die Kampagne ruft zum Boykott des Staates Israel und israelischer Produkte wegen des Vorgehens gegen Palästinenser auf. Hoskoté habe deutlich gemacht, dass er die Ziele des BDS ablehne, hatte die Documenta mitgeteilt. Auf die „Erwartung einer unmissverständlichen Distanzierung“ hin habe er dann seinen Rücktritt erklärt.
Dann legte auch die israelische Künstlerin Bracha Lichtenberg Ettinger ihr Amt nieder – offenbar wegen der aktuellen Situation im Nahen Osten.
Der Arbeitsprozess der Kommission sei unter dem Eindruck der Terrorattacken der Hamas, dem zunehmenden Antisemitismus in Deutschland und den polarisierten Debatten darum immer mehr unter Druck geraten, teilte die Documenta am Donnerstag mit. Es sei erwogen worden, nach den ersten beiden Rücktritten mit den verblieben Mitgliedern der Kommission weiterzumachen, die Kommission aufzustocken, die Arbeit auszusetzen oder ganz neu aufzulegen. In „einer äußerst schwierigen Entscheidungsfindung“ hätten sich die vier verbliebenen Mitglieder entschlossen, nicht mehr teilhaben zu wollen.
Kann die Documenta 2027 stattfinden?
Inzwischen steht nicht einmal mehr das Datum der nächsten Documenta. Traditionell findet sie alle fünf Jahre statt. „Die Frage nach dem Zeitpunkt steht in der aktuellen Situation nicht an erster Stelle“, sagte Geschäftsführer Andreas Hoffmann. „Es geht darum, die Documenta in eine gute Zukunft zu führen.“
Deutsche Politiker sprachen am Freitag von einem „Scherbenhaufen“, Deitelhoff findet die Lage der Documenta „verheerend“. Es dürfte schon schwer werden, neue Kandidaten für die Findungskommission zu finden. Umso schwerer wird es wohl, Kuratoren zu finden, die sich in diesem Klima zutrauen, ein solches Mammutprojekt zu stemmen. Vor allem, wenn man die Altlast der documenta fifteen mit sich herumträgt, die wegen antisemitischer Kunstwerke kurz davor stand, abgebrochen zu werden.
„Wir brauchen jetzt einen glaubwürdigen Neustart“, forderte die deutsche Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne). Der Bund sei bereit, an der Neuaufstellung mitzuarbeiten. Roth sagte, sie begrüße es sehr, „dass sich die Documenta GmbH zunächst mit der eigenen, grundsätzlichen Neubestimmung und Strukturreform befasst, bevor die Planung für die Ausgabe 2027 beginnt“.
„Betriebssystem“ der Documenta neu starten
Die Gesellschafter der Documenta - das Land Hessen und die Stadt Kassel - wollen nach eigenen Worten das verloren gegangene Vertrauen wieder aufbauen. Erster Schritt sei, das „Betriebssystem“ der Documenta neu zu starten, sagt Geschäftsführer Hoffmann. Derzeit werde die Organisationsstruktur unter die Lupe genommen. Mit Hilfe externer Experten schaue man sich Verantwortlichkeiten, Strukturen und Prozesse an. Erst, wenn dieser Prozess der Neuaufstellung abgeschlossen ist, könne man den nächsten Schritt angehen und den Findungsprozess neu beginnen.
„Der aktuelle Konflikt um die Documenta ist nicht losgelöst von der Situation der internationalen Kunstwelt zu sehen“, analysiert der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel. „Die Debatten um Antisemitismus, Israel und den Nahostkonflikt spalten die Szene.“ Kunstschaffende in Deutschland stünden vor einem Dilemma. „Sie sind zum Teil abhängig vom internationalen Kunstmarkt und trauen sich deshalb nicht, eine differenzierte Position einzunehmen.“
Verbote können für Mendel allerdings auch nicht die Lösung sein. „Vielmehr muss ein Konsens mit den Leitungen der Kulturhäuser geschaffen werden, der sich jeglichen Formen von Ausschlüssen widersetzt.“ Entscheidungsträger wie Kuratoren, Museumsleitungen oder Mitglieder von Findungskommissionen müssten „gleichermaßen für alle Künstler*innen offen sein, unabhängig von ihrer Herkunft oder nationalen Zugehörigkeit“.
„Wir brauchen die Kunst mehr denn je“, findet Ministerin Roth. „Wir brauchen geschützte Räume für die Kunst, wir brauchen ihre Debatten und Impulse für eine offene Gesellschaft.“ Auch Documenta-Geschäftsführer Hoffmann betont, dass Debatten „zur DNA der Documenta gehören“. Deitelhoff findet es problematisch, wenn der Eindruck erweckt werde, die Kunstfreiheit sei bedroht. „Die Antwort kann nicht sein, dass wir ein bisschen Antisemitismus zulassen.“
Bereits die Documenta fifteen war von einem Antisemitismus-Eklat überschattet worden. Die Schau gilt neben der Biennale in Venedig als wichtigste Ausstellung für Gegenwartskunst. (APA/dpa)