Mein Dienstag

Ich muss es einfach verstehen

Sandra Hüller in Regisseurin Justine Triets „Anatomie eines Falls“. Der Film wurde in diesem Jahr mit der Goldene Palme von Cannes ausgezeichnet.
Sandra Hüller in Regisseurin Justine Triets „Anatomie eines Falls“. Der Film wurde in diesem Jahr mit der Goldene Palme von Cannes ausgezeichnet.Viennale
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Etwas zu akzeptieren, ohne es zu durchschaut zu haben, wird mir in diesem Leben nicht mehr gelingen.

Es gibt da diese Szene in dem Film „Anatomie eines Falls“, der derzeit im Kino läuft. Der elfjährige Daniel liegt weinend im Bett, als ihn seine Mutter zu trösten versucht. „Ich muss es verstehen, um es zu akzeptieren“, sagt er. „Ich muss es einfach verstehen.“

Was er meint: Wenige Tage zuvor haben die beiden Daniels Vater tot vor ihrem Haus gefunden. Er ist offensichtlich aus dem Fenster gestürzt. Ob es ein Unfall war, ein Suizid oder ein Verbrechen, ist noch unklar. Und genau das lässt Daniel keine Ruhe. So lang, bis er irgendwann tatsächlich glaubt, verstanden zu haben, was sich an jenem Tag ereignet hat. Mit seiner These gibt er sogar dem anschließenden Prozess gegen seine Mutter – nur sie kommt als Täterin für ein Tötungsdelikt infrage – die entscheidende Wendung.

Wenn Sie nur wüssten, wie gut ich mich in Daniels Lage versetzen kann. In diesem Punkt ticke ich zu 100 Prozent wie er. Ich kann eine Sache nicht akzeptieren und gut sein lassen, bevor ich nicht überzeugt bin, sie verstanden zu haben. Eine Provokation zum Beispiel, oder den Umstand, dass jemand meine Nähe sucht, mir aus dem Weg geht, seiner Partnerin oder seinem Partner wiederholt untreu wird, in eine Depression schlittert, auswandert, geizig oder verschwenderisch ist, exzessiven Sport betreibt, nie lange Beziehungen führen kann, mit seiner Familie zerstritten ist, alle zwei Jahre in Bildungskarenz geht und, und, und.

Es gibt ja diesen Spruch, wonach man nicht alles verstehen muss, um es zu akzeptieren. Davon halte ich nichts. Das ist eine Ausrede von Leuten, die nicht den Mut oder die Ausdauer haben, nach Erklärungen zu suchen. Vor allem nach unangenehmen Erfahrungen ist es natürlich bequemer, sich nicht auf die Suche nach Motiven zu begeben. Denn am Ende könnten diese mit einem selbst zusammenhängen.

Ist jedenfalls meine Meinung. Deswegen – glauben Sie es oder nicht – gibt es in meinem Leben keine einzige offene Frage. Nichts, wozu ich keine Erklärung gefunden hätte. Kein Konflikt, keine Trennung, keine persönliche Niederlage, kein Ghosting. Okay, Letzteres ist kein gutes Beispiel. Da ist die Erklärung immer die gleiche: Feigheit.

E-Mails an: koeksal.baltaci@diepresse.com


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