Ein Bild vom 4. April 2022 von einem zerstörten Wohngebäude in der Kiewer Vorstadt Borodjanka, wo es mittlerweile schon Wiederaufbau-Bemühungen git.
Fokus auf
2022-2024

Zwei Jahre Krieg in der Ukraine – eine Bilanz

Der Ukraine-Krieg hat neben den Kriegsparteien auch Europa und die westliche Welt verändert. Der neue Kalte Krieg stärkte die Nato. Wie steht es um die Geopolitik und die Wirtschaft?

Als Wolodymyr Selenskij im Februar 2022 bei der Münchner Sicherheitskonferenz redete, wähnte sich der ukrainische Präsident trotz aller Warnungen der USA nicht in unmittelbarer Kriegsgefahr. Wenige Tage später startete Wladimir Putin seinen Angriffskrieg gegen das „Brudervolk“, den er euphemistisch als „militärische Spezialoperation“ bezeichnete. Ein Jahr später scheute US-Präsident Joe Biden nicht das Risiko einer nächtlichen Zugfahrt nach Kiew, um seine Solidarität mit der Ukraine zu demonstrieren. Wiederum ein Jahr darauf steckt das Hilfspaket über 60 Mrd. Dollar im US-Kongress fest, und Selenskij appellierte nach dem Fall der Bastion Awidijiwka an der Front im Osten wiederum bei der Münchner Sicherheitskonferenz an die Nato-Verbündeten: „Tun Sie alles, damit die Ukraine gewinnt.“ Das Kriegsglück hat sich gegen Kiew gewendet.

Internationale Auswirkungen

Der neue Kalte Krieg hat den Westen zusammengeschweißt und die Nato gestärkt. 18 der 31 Nato-Mitglieder erreichen nunmehr das Minimalziel von zwei Prozent des BIPs, darunter auch Deutschland, dessen Kanzler Scholz 2022 eine „Zeitenwende“ proklamiert hat. Zwar wurden Risse deutlich, etwa bei eher prorussischen Staaten wie Ungarn und der Slowakei. Zugleich traten Finnland und Schweden dem Bündnis bei, wobei Ungarn die schwedische Mitgliedschaft nun am 26. Februar ratifizieren wird.

Die EU hat ein 13. Saktionspaket beschlossen, um die russische Kriegsindustrie zu schwächen. Zugleich steht Europa unter Druck, die Rüstung zur Unterstützung der Ukraine hochzufahren. Militärisch wie rüstungstechnisch ist die Ukraine in Bedrängnis: Russland verfeuert nach Expertenmeinung fünfmal so viel Artilleriegeschosse wie die Ukraine. Während die Militärhilfe aus den USA ins Stocken geraten ist und Europa in Verzug ist, bedient sich Russland beim Iran mit Drohnen, bei Nordkorea mit Raketen und bei China mit Technologie und Ersatzteilen.

Eine Friedensperspektive ist nicht in Sicht. Die Verhandlungen zu Kriegsbeginn haben sich zerschlagen, und Chinas Zehn-Punkte-Plan ist keine Basis. Putin schielt auf die US-Wahl und eine erneute Präsidentschaft Donald Trumps. Kürzlich lud Selenskij den Ex-Präsidenten bereits in die Ukraine ein: „Dann kann ich ihn an die Front mitnehmen und ihm zeigen, wie ein richtiger Krieg aussieht.“

März 2022 und Februar 2024: Borodjanka, die zerstörte Vorstadt Kiews.
März 2022 und Februar 2024: Borodjanka, die zerstörte Vorstadt Kiews.APA / AFP / Sergei Supinsky

Wirtschaft

Für die Ukraine war der Angriff Russlands auch eine wirtschaftliche Katastrophe. So schrumpfte die Wirtschaft im ersten Kriegsjahr um 29,1 Prozent. Grund dafür waren nicht zuletzt die Zerstörung von Fabriken und der plötzliche Personalmangel. Im zweiten Kriegsjahr hat sich die Lage etwas stabilisiert, die Wirtschaft wuchs um rund 3,5 Prozent – auch dank des Exports landwirtschaftlicher Produkte über die Schwarzmeerhäfen. Es konnte den Verlust jedoch nicht kompensieren.

Westliche Sanktionen und die Reduktion der Energieexporte ließen zunächst zwar die russische Wirtschaft schrumpfen, allerdings wegen der hohen Energiepreise nur um minus zwei Prozent. Die Kriegsindustrie sorgt inzwischen für einen regelrechten Boom. Die Auslastung ist in vielen Fabriken auf einem Allzeithoch, die Arbeitslosigkeit auf einem Rekordtief. Im Vorjahr lag das Wachstum bei deutlich mehr als zwei Prozent. Ökonomen sprechen indes von einer „Primitivisierung“ der Wirtschaft, da Hochtechnologie aus dem Westen fehlt – was die Wachstumsaussichten mittelfristig begrenzt.

Ukraine und Russland

Im zweiten Kriegsjahr bekam die politische Einheit in der Ukraine Risse. Alte Konflikte zwischen den Playern brachen erneut auf. Für Unruhe sorgte kurz die Frage von möglichen Wahlen. Sorgenvoll beobachtete auch das Ausland den Konflikt zwischen Selenskij und Oberbefehlshaber Valerij Saluschnij. Der Präsident gewann mit der Ernennung von Oleksandr Syrskij die Oberhand.

Die Gesellschaft ist zermürbt und müde. Der Kiewer Politologe Oleksij Haran gibt gegenüber der „Presse“ eine gewisse Enttäuschung zu: „Man hat überzogene Erwartungen geschaffen. Viele glaubten an die erfolgreiche Gegenoffensive.“ Ans Aufgeben denken die Ukrainer indes nicht. Der Kampf gegen den Aggressor ist ein Kampf ums eigene Überleben. Trotz schwieriger Lage an der Front unterstützt eine Mehrheit die Regierung. Laut Umfrage des Instituts Demokratische Initiativen sagen 45 Prozent, dass sich das Land in die richtige Richtung bewege.
Vor Beginn der russischen Invasion waren es nur 20 Prozent. 60 Prozent sehen das Schicksal der Ukraine optimistisch, nur ein Drittel empfindet Angst. „Die Ukrainer wissen, dass es ein langer Kampf wird“, sagt Haran. „Sie sind bereit, Opfer zu bringen.“

In Russland vermag Putins Feldzug nur die Ultrapatrioten zu begeistern. Da aber die Propaganda dem Westen fälschlicherweise die Verantwortung zuschiebt und behauptet, Russland solle zerstört werden, kann der Kreml doch viele Menschen für sich gewinnen. Vor seiner Wiederwahl sitzt Präsident Putin fest im Sattel. Politische Gegner sind tot (Prigoschin, Nawalny), Kriegsgegner wie Boris Nadeschdin werden nicht zugelassen. Die Frage ist, ob der Kreml nach der Wahl-Show erneut eine unpopuläre Massenmobilisierung starten muss, die eine potenzielle Destabilisierung des Regimes bringen könnte.

Humanitäre Folgen

Bis Ende 2023 hat der russische Angriffskrieg in der Ukraine Schäden von mehr als 140 Mrd. Euro verursacht. Die UNO beziffert die Wiederaufbau-Kosten im nächsten Jahrzehnt auf mehr als 450 Mrd. Euro. Finanziell ist die Ukraine stark abhängig von westlichen Geldgebern. Das öffentliche Leben konnte dank Flexibilität und Erfindungsreichtum aufrechterhalten werden: Staatliche Institutionen sind ebenso funktionstüchtig wie der öffentliche Verkehr und Kultureinrichtungen. Die Energieinfrastruktur hat dank Schutzbauten den russischen Luftschlägen weitgehend getrotzt.

Die Ukraine muss aber die sozialen Folgen eines sich hinziehenden Kriegs fürchten. Neben der großen Zahl ziviler Opfer (mehr als 10.000 seit 24. Februar 2022) wird das Sozial- und Gesundheitssystem durch Kriegsverletzte, 3,7 Mio. Inlandsvertriebene und die wachsende Zahl von Witwen und Waisen belastet. Besorgniserregend ist der Bevölkerungsschwund. 6,5 Mio. Ukrainer leben seit Kriegsbeginn im Ausland. Je länger die militärische Konfrontation dauert, je prekärer die Sicherheitslage wird, desto geringer die Chancen für ihrer Rückkehr.

März 2022 und Februar 2024: Die zerstörte Brücke von Irpin.
März 2022 und Februar 2024: Die zerstörte Brücke von Irpin.APA / AFP / Aris Messinis
März 2022 und Februar 2024: Bahnhof von Lwiv (Lemberg). Ein Sehnsuchtsort für die Flüchtlinge vor zwei Jahren.
März 2022 und Februar 2024: Bahnhof von Lwiv (Lemberg). Ein Sehnsuchtsort für die Flüchtlinge vor zwei Jahren. APA / AFP / Yuriy Dyachyshyn

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.