Fokus auf
Folge 9

Wann ist ein Wiener glücklich?

Unser Obstverkäufer von „Kronprinz und Co“ muss sich mit einer Kollegin auseinandersetzen, die an Wien nur die Oberlaa-Schnitte hübsch findet und ihm am Ende eine seltsame Lektion erteilt.

Das Sonderbare an Wien, dieser ohnehin schon sonderbaren Stadt, ist, dass hier erstaunlich viele Leute leben, die diese Stadt nicht besonders mögen. Aber anders als sonst wo ziehen diese Leute nicht weg, sondern bleiben hier, um an ihrer Antipathie zu feilen.

Als ich heute Vormittag die Tomaten sortierte, tauchte Ines auf, die Schmuckverkäuferin. Ines ist eine Weltmeisterin des unverbindlichen Lächelns, aber heute sah sie aus, als hätte sie jemand mit einer Zitrone zwangsgefüttert. 

„Hast du gehört, dass man Wien wieder zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt hat?“, fragte sie mich in unschuldigem Ton. Wenn ­Inländer einem Ausländer solche Fragen stellen, sollte man aufpassen. Ein Wort zu viel, und schon ist man in Schwierigkeiten. „Wen wundert’s?“, stellte ich mich dumm. „Ist ja eine hübsche Stadt.“

„Hübsch?“, schoss es aus Ines hervor, als hätte ich sie geohrfeigt: „Die Oberlaa-Schnitte ist hübsch. Und die Fiaker, wenn man Pferde mag. Aber hast du dir einmal die Wiener angesehen? Nicht als Kunden – als Homo sapiens?“

„Ich mache den ganzen Tag nichts anderes.“ Manchmal wundere ich mich, was für ein Diplomat in mir steckt. Wo ich doch auf keiner Diplomatenschule war. 

„Der Wiener ist die hinterhältigste Spezies auf diesem Planeten“, regte sich Ines auf, während ihr hübsches Gesicht alle Regenbogenfarben durchnahm: „Er schaut niemandem in die Augen und sieht trotzdem alles. Im Haus, in dem ich wohne, habe ich noch nie jemanden zu Gesicht bekommen, und trotzdem wissen alle, was ich in der Nachttischschublade liegen hab. Jeder hat hier einen Röntgenapparat, auf dem steht: ‚extra made for Vienna.‘“

Ich musste an die tote Frau denken, die fünf Jahre lang tot in der Wohnung lag. Wo blieb da der Röntgenapparat? Bevor ich etwas einwerfen konnte, machte Ines weiter.

„Das ganze Land ist eng wie ein Schuh, den man nicht ausziehen kann. Hast du schon einmal Österreich auf der Europakarte betrachtet? Es sieht aus wie ein verschütteter Kaffeefleck. Nicht einmal das Wort Österreich geht sich darauf aus. Die schreiben Immer nur Ö.“  

Ich beschloss einzugreifen. Was konnte schon Ö. dafür, dass sein Name länger war als es selbst: „So klein ist es überhaupt nicht“, sagte ich und glänzte mir vertikalem Geografiewissen. „Würde man alle Berge platt drücken, wäre Österreich so groß wie Deutschland. Außerdem ist auf diesem kleinen verschütteten Fleck Platz für fast neun Millionen Leute, eine Menge Skilehrer und ein Ding namens Riesenrad.“

„Das ist das nächste Problem. Sobald man die Wahrheit sagt, taucht ein selbst ernannter Straßenkehrer auf und kehrt sie unter den Asphalt.“

Zum Glück warteten an ihrem Stand schon zwei Kunden. Ines musste zum Schluss kommen. Sie zeigte auf die beiden und sagte: „Jetzt sieh zu und lerne.“

Zurück an ihrem Stand setzte sie ihr süßlichstes Tausend-und-eine-Nacht-Lächeln auf. So viel zum Schuh, den man nicht ausziehen kann.

Fortsetzung folgt ...


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