Liebe Krise, auf ein Bier?

Was ist das, Berlin? Eine Größe ohne Substanz? Eine ohnmächtige Machtzentrale? 48 Milliarden Euro Schulden - und was sonst noch ansteht: die deutsche Metropole zwischen Hype und Depression.

Der Berliner "Prater" in der Kastanienallee, im dicht bebauten Stadtbezirk Prenzlauer Berg, ist ein beliebtes Wirtshaus mit einem fabelhaften Biergarten. Silvia Hansen und Fanny Trab sitzen beim Bier und warten. Sie wollen zwei Spülmaschinen für Gläser kaufen, aber der Vertreter für Second-hand-Küchengeräte verspätet sich. Die beiden Frauen eröffnen demnächst ein neues Lokal. "Nein, kein Lokal, 'ne richtige Kneipe! Drüben in Kreuzberg, nicht hier am Prenzlberg. Hier werden bald, wie jetzt schon in Mitte, die Mietpreise krass raufgesetzt, da krieg' ich echt die Krise!", empört sich Fanny. Dann muss sie lachen. "Ja, also . . . unsere Kneipe heißt Kryziz. Gesprochen: Krisis. Das ist polnisch."

Fanny kommt aus der Nähe von Leipzig, sie unterrichtet in Berlin als Lehrerin. Aber sie wollte immer schon etwas anderes werden, Gärtnerin für Obstbäume oder Dompteuse für Raubtiere. Nun machen die beiden erst einmal ein Restaurant auf. "Krise? Wir sind doch der Beweis für das Gegenteil. In Bremen oder in Leipzig wäre unsere Kneipe undenkbar. Diese Stadt entsteht doch erst, und sie ist noch lange nicht fertig. Nirgendwo in Europa gibt es so viele 28-Jährige an einem Ort, die immer noch nicht wissen, was sie wollen. Und die trotzdem irgendwie gern hier leben, und was daraus machen. Bloß die Politiker, die erkennen diese Kreativität nicht. Was wird denn getan für die jungen Arbeitslosen? Die Stadt ist superkreativ, die Deutschen selber sind es. Ich weiß auch warum, weil sie so total unterschiedlich sind."

Ein eher trostloses Statement gibt der Berliner Kultursenator Thomas Flierl ab. Er antwortet ohne Zögern: "Ja, Berlin befindet sich in einer Krise." Der PDS-Stadtrat für Kultur erläutert das Problem so: Die Stadt Berlin sei derartig hoch verschuldet (48 Milliarden Euro!), dass es unmöglich sei, aus der Schere von weiteren, gegenüber dem Jahresansatz überhöhten Ausgaben und daher auch weiter ansteigenden Krediten (die Kreditzinsen allein betragen im Jahr 2003 etwa 2,4 Milliarden Euro!) zu entkommen. Alle Geldbeschaffungs- und Einsparungsmaßnahmen reichen nicht aus, die Spirale von wachsendem Defizit und einer sich irrwitzig steigernden Verschuldung zu stoppen. Das bedeutet, so Flierl, dass die Berliner in den nächsten Jahren weitere Einschränkungen im Sozialbereich, bei Schulen und Universitäten und vor allem bei subventionierten Kulturinstitutionen wie Theatern, Museen und Bibliotheken in Kauf nehmen müssen. Die einzige Rettung liege darin, dass der Bund das Land Berlin eines Tages entschulden müsse, weil Kommunen ja keinen Konkurs machen dürfen. Später war dann auch von der Oper die Rede.

Ob Berlin ihrer Meinung nach von einer Krise bedroht sei, fragte ich kürzlich auch die Schriftstellerin Christa Wolf. Sie aber gab mir die Frage spöttisch zurück: "Berlin? Wo gibt's denn hier eine Krise? Siehst du hier irgendwo eine Krise?" Ihr Mann Gerhard ergriff das Wort und erzählte von mehreren Beispielen, wie erfolgreich kleine Initiativen zur Erneuerung des Stadtteils Pankow im Nordosten Berlins funktionieren. Und wie ausdauernd und selbstlos sich einzelne Menschen dabei engagieren würden, um diesen Kiez lebenswerter zu machen. Das bestritt Frau Wolf nicht, aber es war ihr etwas zu kleinteilig. Sie klagte über die Einschränkungen für kleinere soziale und politische Initiativen, sie sprach von der hohen Arbeitslosenrate (18,7 Prozent!), von den etwa 4000 Obdachlosen. Und dass alle Stadtprobleme (zum Beispiel kulturpolitische) nur noch unter dem Aspekt der Verringerung des Stadtdefizits diskutiert würden. Als dann später von den Kindern und Enkelkindern die Rede war, und welche Wege sie seit dem Fall der Mauer wählten, klang Christa Wolf doch recht optimistisch, was in Berlin alles möglich sei.

Szenenwechsel: Charlottenburg, bürgerlicher Westen. "Die Offenheit der Stadt nach Ost und West ist das, was Berlin so aufregend macht. Etwas, was andere Städte in Deutschland und in Europa nicht haben. Das klingt leicht pathetisch, ist aber ein Zeichen ihrer fundamentalen Krise." Der so redet hat sein Büro in einem hohen Betonturm, unter sich den Verkehrsradau am Theodor-Heuss-Platz. Früher stand SFB auf dem Haus, seit 1. Mai nennt sich hier alles nur noch RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg), und der Chef der aktuellen Kulturberichterstattung im Fernsehen heißt Wilfried Rott. "Alles, was gut und attraktiv ist in dieser Stadt", sagt er, "ist ein Zeichen ihrer Krise: Die Krise macht zum Beispiel, dass es viele billige Wohnungen gibt. Dadurch werden manche Stadtbezirke jünger, weil sich junge Leute, die wenig verdienen, hier Wohnungen leisten können. Dadurch wird das Leben der Stadt neugieriger, vitaler."

Für Rott bedeutet die gegenwärtige Verfassung Berlins keine bedrohliche Wende, sondern einen zwar langsamen, aber doch aufregenden Übergang in etwas Neues. Seit 25 Jahren lebt er in Berlin, der gebürtige Wiener, und hier wurde er zu einer bekannten Persönlichkeit des städtischen Kulturlebens. Er ist ein beredter Fernsehmoderator und ein ironischer Journalist. Seine bekannte Zeitungskolumne, "Professor Rott geht durch Berlin", früher in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", heute in der "Welt" zu lesen, begründete seinen Ruf als eigensinnigen Beobachter des Stadtlebens. Jeden Montag spricht der Wiener Professor auch im Radio über "Rott und die Welt", so der Titel der neuen Sendung.

"An Berlin ist vieles schon sehr skurril", gibt Rott zu bedenken, "zum Beispiel diese Mischung aus Größe und Banalität, auf die man hier so oft trifft. Die Stadt hat sich eben noch nicht an die Normalität gewöhnt, der Umbruch ist überall spürbar. Hier existiert kein städtisches Bürgertum wie in Hamburg oder München, in Berlin entsteht ein Homo novus."

Dieser Homo novus formiere sich erst, und zwar aus einer sehr zögerlichen Vermischung von West- und Ostdeutschen, aus hier gebliebenen ehemaligen Westberlin-Studenten mit Familien und den zugezogenen Bonner Beamten, aus den Altberlinern von hüben und drüben, aus Polen, Russen und Türken. "Berlin ist ein wahrer melting pot, und es wird noch viel Zeit vergehen, bis dieser Homo novus richtig lebendig wird. Haben Sie das auch schon beobachtet, dass die Berliner im Auto immer einen Stadtplan brauchen? Das ist doch ein gutes Zeichen: Die Leute kennen sich in ihrer eigenen Stadt nicht aus."

Wenn es mir zu krisiös wird in der deutschen Metropole, wenn alle Journalisten auf alle Politiker schimpfen, als wären sie allesamt am Stammtisch des Bild-Zeitung-Wirtshauses ausgebildet worden, wenn mir das Fernsehprogramm in der U-Bahn ungefragt alle Kinderschänder, Messerstecher, korrupten Beamten und die Ehesorgen sämtlicher Filmstars vorgeführt hat, wenn mir also zu viel Krise in der Stadt ist, dann sehe ich nach, wie viel Stadt in der Krise ist.

"Na, du liebe Krise, wollen wir nicht ein Bier trinken gehen?", frage ich sie. Und sie nickt, und wir setzen uns also in den "Felsenkeller" in der Akazienstraße. Hier diskutieren wir gerne, heute zum Beispiel über das Thema: Was ist das eigentlich, Berlin? Eine Größe ohne Substanz? Ein depressiver Moloch? Ein Sündenbabel, in dem Geiz geil ist? Eine soziologische Versuchsanordnung für Tempo und Simultaneität? Ein Dschungel mit wegrationalisierten Tigern, grünen Mambas und Nasenbären? Eine ohnmächtige Machtzentrale, die Selbstinszenierung eitler Architekten? Der Treffpunkt von Immobilienspekulanten und Bankrotteuren? Oder ist Berlin einfach da für Lebensfreude, Lust und gute Laune, für Sex, geglückten Alltag und verrohende Sitten?

"Krise: der Name leitet sich ab aus dem Griechischen, bedeutet Scheidung, Streit, Urteil, bezeichnet eine Entscheidung, die einen Konflikt beendet", doziere ich. "Berlin aber befindet sich in einer ewigen Dauerkrise." Da gibt mir die Krise gerne recht. "Hast du schon im Internet gelesen: www.berliner-krisendienst.de, www.tagesspiegel.de/berlin-retten oder www.sueddeutsche.de/krise?", fragt sie mich. "Das ganze Universum ist in der Krise! Kannst Du alles nachlesen im Internet!"

"Vielleicht ist ja die Krise der Normalfall des Geschichtsprozesses", kontere ich eiskalt, "nicht nur ein historischer Wandel. Womöglich gar ein Begriff für Fortschritt: Vielleicht ist die Krise dieser Stadt ihr spezielles Glück, sich eine neue Identität suchen zu dürfen. Wer kann das schon? Vielleicht lehnt Berlin es einfach ab, den jetzigen Zustand als einen dauerhaften anzusehen. Vielleicht bedarf es gar keines raffinierten Krisenmanagements, vielleicht muss der Mensch in Berlin nicht krisenfähig werden, muss vielleicht gar keinen ,konstruktiven Umgang' mit Krisen einüben. Die Psychologie will uns doch weismachen, jede verarbeitete Krise setze neue Kräfte und Lebensenergien frei. Ist die Krise denn dazu da, dass sie bewältigt wird, oder wäre es nicht besser, sie wäre gar nicht da?" "Ich bin aber nun einmal da!", höre ich beleidigt neben mir eine Stimme.

Vielleicht ist das, was wir Krise nennen nur ein Ausdruck davon, dass hier mehr widersprüchliche und vielschichtige Lebenswahrheiten erprobt werden als anderswo. Und dass die Menschen, die hier leben, nicht mehr den Versuch unternehmen, die Seele dieser Stadt zu ergründen, weil es sie vielleicht gar nicht gibt, und daher leben, wie es ihnen beliebt: Tschüss, Seelenkrise.

So redeten wir uns heiß bei unserem kleinen "Berliner Krisengipfel" an einem warmen Sommernachmittag mit einigen Gläsern Rothaus-Pils. Am Abend wollten wir beide noch ins Theater gehen. Da staunten wir nicht schlecht, als wir die Zeitung aufschlugen und den Berliner Spielplan lasen: König Ottokars Krise und Ende, Sechs Personen suchen eine Krise, Wer hat Angst vor Virginia Krise, Krisen aus dem Wienerwald, Die gute Krise von Sezuan, Schade, dass sie eine Krise war, Die Krise auf dem heißen Blechdach, Krise muss Elektra tragen. Und in der Oper spielte man: Die Krise des Nibelungen, Krise und Isolde, Tannhäuser oder Die Sängerkrise auf der Wartburg, Die Zauberkrise, Krise fan tutte, und sogar "Die Cs¡rdaskrise". [*]

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